«Wieso soll ich mich beklagen?»
2014 erhält Manuel Arn die Diagnose: ALS. Sieben Jahre später kann er nur noch den rechten Daumen minimal bewegen. Trotzdem strahlt er einen beeindruckenden Optimismus aus - und plant seinen 50. Geburtstag.
Text: Peter Birrer
Bilder: Jonas Pfister
Der rechte Arm liegt auf der Lehne, aber die Position ist noch nicht perfekt. Die Hand wird minim verschoben, fast nicht sichtbar für den Beobachter, aber so, dass Manuel Arn eine deutliche Verbesserung spürt und sagen kann: «Jetzt fühle ich mich wohl.»
Die Millimeterarbeit muss sein, weil der Daumen eines seiner wichtigsten Werkzeuge ist. In diesem einen Finger ist ihm ein bisschen Kraft geblieben, bis zu zehn Gramm Gewicht kann er noch bewegen. Oder in seinem Fall: seinen Elektro-Rollstuhl steuern. Arn leidet an ALS, dieser unheilbaren Nervenkrankheit. Die Motoneuronen sind geschädigt und dadurch die Übermittlung von Signalen an die Muskeln nicht mehr möglich. Einzig der Daumen kann derzeit noch Befehle aus dem Gehirn empfangen. Arn ist dankbar dafür und hofft, dass ihm diese Funktion möglichst lange erhalten bleibt. Aber er weiss, dass es keinen Sinn macht, darum zu kämpfen: «Die Krankheit hat ihr Tempo, sie schreitet voran.»
Irgendwann wird er sich mit neuen Hilfsmitteln befassen müssen. Eine Option wäre die Kinnsteuerung, aber er findet es irritierend, den Joystick im Gesichtsbereich zu haben und ständig im Blickfeld zu haben. Vorziehen würde er eine Augensteuerung.
«So», sagt der 49-Jährige mit wachem Blick und einem zufriedenen Lächeln, «legen wir los.»
«Musik ist die Sprache meiner Seele.»
Das Gespräch dreht sich um die Geschichte eines Mannes, der in Dotzigen aufwächst, einem Dorf im Berner Seeland. Er bildet sich zum Mechaniker aus, wagt sich einmal kurz in die Selbstständigkeit, bevor er sich in einem Betrieb in Safnern BE anstellen lässt. Er heiratet, wird Vater von zwei Buben und begeistert sich für die Musik, er nennt sie «die Sprache meiner Seele». Er spielt Schwyzerörgeli und Akkordeon, sind in Jodlerchören und im Chor des Stadttheaters Biel auf der Opernbühne. Ausserdem ist er als Dirigent tätig.
Arn macht aber auch eine persönliche Krise durch, in diese Zeit fällt die Trennung von seiner Frau. Er bringt die Energie auf, wieder aufzustehen und ins Leben zurückzukehren. Doch just in der Endphase der Krise 2013 sendet sein Körper seltsame Signale aus. Auf einmal bereitet es dem stämmigen, gegen 90 Kilo schweren Mann Mühe, bei der Gesangsprobe im Chor des Theaters die Partitur über längere Zeit zu halten. Selbstverständliches wird zu einer unerklärlichen Anstrengung. Was ist nur los?
Eine Zeitlang schafft er es, die Defizite zu kaschieren und zu kompensieren, bis sich die Zeichen, dass nicht mehr alles in Ordnung ist, mehren. Er stolpert oder fällt gar hin, oder er merkt, wie es ihm immer schwerer fällt, seine kleinen Söhne auf dem Arm zu tragen. Ein paar Monate nach den ersten Auffälligkeiten konsultiert er den Arzt, im Frühling 2014 ist das.
Ein MRI soll erste Aufschlüsse liefern. Die Bilder sagen: Es handelt sich nicht um Multiple Sklerose. Der Arzt sagt gleichwohl, die Situation sei ernst zu nehmen und organisiert für Manuel Arn einen Termin in der Neurologie des Berner Inselspitals. Untersuchung reiht sich an Untersuchung, mehrere Tage dauert das, gemessen wird unter anderem die Nervenleitfähigkeit. Am Ende der Woche erhält Arn in seinem Zimmer Besuch der Ärzte. Und wird fadengerade mit der Diagnose konfrontiert: amyotrophe Lateralsklerose. Kurz: ALS.
«Trotz ALS führe ich ein erfülltes Leben.»
Zuerst einmal muss Arn in Erfahrung bringen, worum es sich genau handelt. Gehört hat er von ALS schon, aber was wirklich darunter zu verstehen ist, wird ihm erst jetzt bewusst. Auch über die Care Managerin, die von nun an für ihn zuständig ist und eine wichtige Anlaufstelle wird. Bald weiss er vieles über die Krankheit, viel Heftiges: degenerativ, nicht therapierbar, tödlicher Verlauf - «ich bin mit einigem konfrontiert worden, mit dem ich nie konfrontiert werden wollte».
Arn nimmt das zwar zur Kenntnis, aber zu diesem Zeitpunkt geht es ihm eigentlich noch gut. Er hat keine Schmerzen und kommt mit seinen bestehenden Lösungen durch. Und das mit der Notenpartitur, denkt er, das bekäme er schon irgendwie hin: «Mein Zustand war ja nicht so schlecht.»
Die Diagnose trifft ihn, aber er lässt sich von ihr nicht seinen Lebensmut nehmen. Sofort nimmt er die Haltung ein: «Ich bin der Chef von mir.» Arn lernt sich besser zu spüren und zu verstehen, er lernt zu handeln und sich selber zu begegnen. So beschreibt er das. Und behält die Einstellung, als der Rollstuhl Ende 2014 für ihn unumgänglich wird.
Er verliert die Bewegungsfähigkeit in den Beinen, in den Armen, sein Leben verändert sich kontinuierlich. Das Dirigieren, eine seiner grossen Leidenschaften, muss er aufgeben wie so vieles Gewohntes, Schönes. «Aber sollte ich deswegen versauern und so tun, als wäre alles vorbei», fragt er und zitiert den amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr: «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»
In der Wohnung in Biel-Mett läuft im Hintergrund klassische Musik, im Wohnzimmer steht eine Sonderanfertigung seines Freundes Daniel Peter (www.petertools.life): ein mit Wasser gefüllter Glasballon. Dieses so genannte Handfree-Glas ist an einem Gestänge so hoch angebracht, dass sich Arn dank einer Vorrichtung einen Schluck genehmigen kann, ohne eine Assistentin rufen zu müssen. Er schaut aus dem Fenster seiner Wohnung, erfreut sich am vielen Schnee und sagt: «Natürlich wäre es mir am liebsten, wenn meine Diagnose so dahinschmelzen würde wie dieser Schnee, wenn es wärmer wird. Aber ich weiss, dass das nicht möglich ist.» Dann schiebt er bemerkenswerte Worte nach: «Trotzdem führe ich ein erfülltes Leben. Ich habe einen Rollstuhl, genügend und gutes Essen und Möglichkeiten, zu kommunizieren. Wieso soll ich mich beklagen?» Arn war früher Handwerker, kreativ im Beruf, anpackend auch in der Freizeit. Nun ist er einer von rund 600 ALS-Betroffenen in der Schweiz, der zwar alleine lebt, aber auf fremde Hilfe angewiesen ist.
Seine Tage haben in der Regel einen fixen strukturierten Ablauf: Wenn er um 8.30 Uhr erwacht, erledigt er mit dem Support einer privaten Spitex die Morgentoilette, die zwei Stunden dauert; vor dem Mittag übernimmt eine Assistentin eine Schicht, sie kocht und begleitet ihn etwa zum Coiffeur; ab 18 Uhr bereitet eine nächste Assistentin das Abendessen zu; um 23.20 Uhr erscheint eine Vertretung der öffentlichen Spitex, die Arn bei der Abendtoilette unterstützt und danach im Bett lagert. Und morgens um 5 Uhr stattet der Nachtdienst einen Kontrollbesuch ab. «Danach schlafe ich noch eine Runde», sagt er. Es kommt vor, dass die Spitex ein weiteres Mal vorbeikommt, dann zum Beispiel, wenn Arn nachts friert, weil seine Schulter nicht gedeckt ist. Oder er Wasser lösen muss. Oder Unterstützung benötigt, weil er husten muss. Zählen kann er jederzeit auch auf seine Eltern.
Manuel Arn könnte hadern mit seinem Schicksal, sich die Frage stellen, warum es ihn so hart getroffen hat. Wer würde das schon nicht verstehen. Er aber denkt anders: «Hadern müsste ich mit mir, wenn ich die vorhandene Zeit nicht sinnvoll nutzen würde.»
Sich mitteilen und unterhalten zu können, das ist wichtig, telefonisch oder schriftlich. Er tauscht sich mit Freunden aus, schreibt SMS oder lange Mails auf seinem Kommunikationsgerät «Tobii», das sich über Augensteuerung bedienen lässt. Arn demonstriert, wie das geht: Er postiert sich mit dem Elektro-Rollstuhl vor «Tobii», nimmt eine App ins Visier, klickt sie mit den Augen an, öffnet sie so und fängt an, damit zu arbeiten.
«Tobii, mein Tor zur Aussenwelt»
Dank dem Tobii Eye Mobile Plus kann er auch seinen Computer mit Augenbewegungen bedienen. So kann er per Email oder WhatsApp kommunizieren, das Internet nutzen oder Texte verfassen. Das Umweltkontrollsystem HouseMate ermöglicht ihm zudem ein selbständiges Bedienen von Lichtquellen, dem Türöffner und das Ein- und Ausschalten von elektrischen Geräten. Diese kann er mit dem Rollstuhljoystick und einem Taster auf dem Smartphone ansteuern. Support rund um seine Kommunikationsgeräte und die Umfeldsteuerung bekommt er von Active Communication, eine Tochterfirma der Schweizer Paraplegiker-Stiftung: «Sie ist meine wertvolle Anlaufstelle, wenn es um irgendwelche Fragen zu meinen Kommunikationsgeräten oder der Umfeldsteuerung geht», sagt Arn. Manchmal verbringt er Stunden mit «Tobii», das er «mein Tor zur Aussenwelt» nennt und ihm auch Abwechslung mit Spielen bietet. Arn ist ein passionierter Jasser, er hat auch Spass an «Vier gewinnt» oder am Lösen von Sudoku.
Ihm wird nicht so schnell langweilig. Seine Söhne Valentin (14) und Matthias (12) sind regelmässig zu Besuch, um mit ihrem Vater zu essen, zu spielen oder einfach zu reden. Und manchmal verbringt Arn Abende mit Freunden, denen er etwas kocht. Er kocht? «Klar», antwortet er mit einem feinen Lächeln, «ich koche mit Hilfe einer Assistentin oder meinen Freunden besondere Gerichte. Wenn ich fürs Kochen verantwortlich bin, leite ich gerne an, ich habe meistens klare Vorstellungen. Und dann geniessen wir das Essen in vollen Zügen bei einem Glas Wein.» Überhaupt, die Assistentinnen. Sechs sind es insgesamt, und sie alle sind unentbehrlich geworden, sie ersetzen Arns Hände und Beine. Aber, und das betont er, «sie ersetzen nicht meinen Willen». Mit einem Lächeln: «Den behalte ich.»
«Die Endlichkeit ist Realität.»
2014, als Manuel Arn erfährt, dass er an ALS erkrankt ist, ändern sich die Perspektiven auf das Leben. Mit dem Thema Sterben setzt er sich auseinander, unweigerlich. Er kann nachvollziehen, dass Menschen Angst vor dem Tod haben, aber dem Thema begegnet er mit einer gewissen Gelassenheit. «Das Sterben gehört zum Leben», sagt er, «die Endlichkeit ist Realität.» Er will das, was ihm geschenkt wird, intensiv auskosten. Der Abschied kommt, irgendwann, aber seine Gedanken drehen sich vielmehr um das Leben. Der Mann hat noch Pläne, etwa für den 26. Juni. An dem Tag feiert Manuel Arn seinen 50. Geburtstag.
Er ist gerne unterwegs, zum Beispiel mit dem Zug ins Tessin. Er begleitet seine Söhne beim Heranwachsen, ermutigt sie zum Leben, zum Träumen, zum Tun und Lassen. Das Vorstandsmitglied des Vereins ALS Schweiz mag Begegnungen, tiefgehende Gespräche, Spiritualität - «und ich bin glücklich, jeden Tag ein neues Kapitel meiner persönlichen Liebesgeschichte mit dem Leben schreiben zu dürfen».
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