Gion Stiffler

Mit hoher Selbstständigkeit durch den Alltag

Gion Stiffler erkrankte Ende August 2014 schwer und ist seither Tetraplegiker. Seinen Lebensmut hat er deswegen aber nicht verloren - und dank Hilfsmitteln von Active Communication meistert er viele Hürden ohne fremde Hilfe. 

Die Tür öffnet sich, wie von Geisterhand geht sie auf, und der Mann dahinter empfängt den Besucher mit einem zufriedenen Lächeln - willkommen in Trimmis, willkommen im Reich von Gion Stiffler. Zielsicher steuert er mit seinem Elektrorollstuhl an den Tisch und antwortet auf die Frage nach dem Befinden: «Danke, mir gehts gut.»

Der gebürtige Churer sieht keinen Anlass, sich zu beschweren oder zu hadern. Auch wenn er körperlich so beeinträchtigt ist, dass er sich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen kann. Gion Stiffler sagt: «Es würde nichts an der Situation ändern, wenn ich mich ständig beklagen würde. Ich war schon immer ein positiv denkender Mensch.» Nur eines stört, das sagt er offen - «dass ich nicht mehr selber Auto fahren kann».

 

Als sich das Leben plötzlich ändert

Seine Geschichte ist die eines Mannes, der lange voller Tatendrang unterwegs ist. Gion Stiffler absolviert in Bad Ragaz eine Lehre als Automechaniker. Er wird Lastwagenfahrer im Militär, arbeitet als Chauffeur bei einem grossen Transportunternehmen in der Zentralschweiz und erhält eine Stelle beim damaligen Formel-1-Rennstall BMW-Sauber in Hinwil. Bis ihn etwas ganz Neues reizt: Er lässt sich bei der Rhätischen Bahn zum Lokomotivführer ausbilden.

Aber Gion Stiffler kann sich nicht vorstellen, bis zu seiner Pension dasselbe zu tun. Er möchte Polizist werden, schreibt sich für die Aufnahmeprüfung ein und besteht diese auch. 2014 ist das, in jenem Jahr, in dem er seine Freundin Manuela heiratet. Aber Ende August, nur einen Monat nach der Hochzeit, passiert Unheimliches.

Gion Stiffler stoppt auf dem Weg zur Arbeit noch als Lokomotivführer an einer Tankstelle in Bad Ragaz, als er plötzlich ein unangenehmes Gefühl spürt. Ein Schmerz breitet sich in den Armen und Beinen aus, verschwindet aber nicht mehr. Das löst natürlich Ängste aus - und Gion Stiffler reagiert, als die Taubheitsgefühle immer stärker werden. Er schafft es zwar gerade noch, zum Hausarzt zu fahren, hat aber das Pech, dass dieser in den Ferien weilt. Er wählt die Notfallnummer 144 und schildert, was gerade mit ihm passiert.

«Ich kann mich nicht mehr bewegen», sagt er. Ein paar Minuten versorgt ihn die Ambulanz und bringt ihn ins Kantonsspital nach Chur.

Gion Stiffler
Gion Stiffler

Mit der Dashcam alles aufgezeichnet

All das, was er am Stubentisch in Trimmis erzählt, könnte er bildlich belegen: Gion Stiffler hat die Minuten von der Tankstelle bis zum Parkplatz seines Hausarztes mit einer Dashcam aufgezeichnet. Einmal hat er sie angeschaut, aber erst mit einigem zeitlichen Abstand.

Die Diagnose, die er erhält, ist niederschmetternd: Arteria-spinalis-anterior-Syndrom heisst der Fachbegriff für die Durchblutungsstörung, die ohne Ansage kam und aus Gion Stiffler einen inkompletten Tetraplegiker machte. Er spürt zwar, wenn er berührt wird, aber er kann - mit Ausnahme des Kopfs - nichts mehr bewegen.

Auf einmal sieht er sich mit einer neuen Realität konfrontiert. Er, der im Winter so gern auf den Ski stand, der zweimal wöchentlich das Fitnesscenter besuchte oder mit seiner Frau wanderte, muss sich damit abfinden, dass nichts mehr ist, wie es war. Bis Mai 2015 hält er sich zur Rehabilitation in Nottwil auf.

Er kann sein Umfeld selber steuern

Gion Stifflers Leistungsvermögen ist stark eingeschränkt, aber ein Alltag ohne Arbeit, ohne Beschäftigung, das will er auf keinen Fall. Und er sehnt sich natürlich nach möglichst viel Unabhängigkeit. An diesem Punkt kommt Active Communication ins Spiel, die mit ihren Hilfsmitteln einen grossen Beitrag zur Selbstbestimmung leistet. Bei Gion Stiffler bedeutet das: Er kann sein Umfeld steuern. Mit dem Kinn steuert er den Cursor auf seinem Handy, das am Elektrorollstuhl befestigt ist. Damit kann er den Fernseher einschalten, die Schiebetür in den Wintergarten öffnen, den Lift holen, die Haustür aufmachen oder das Geschirr für die zwei Büsis Arlo und Gin mit Trockenfutter füllen.

«Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeiten, ohne die technischen Hilfsmittel könnte ich nichts ausrichten.»

Gion Stiffler

So aber macht es ihm nichts aus, allein daheim zu sein. Dreimal täglich erhält er Support von der Spitex - ansonsten ist seine Frau Manuela für ihn da. «Das ist selbstverständlich», sagt sie, «ich liebe Gion so, wie er ist. Wir ergänzen uns sehr gut. Er unterstützt mich ja auch mit seiner wunderbaren Art.» Und: «Ich kann das Haus beruhigt verlassen, weil ich weiss, dass sich Gion dank den Hilfsmitteln sehr gut zurechtfindet. Die Möglichkeit, mit dem Handy alles Wichtige im Umfeld bedienen zu können, erhöht die Lebensqualität.»

Das Dach falle ihm nie auf den Kopf, sagt Gion Stiffler, «ich habe genügend Abwechslung und immer etwas zu tun». Beruflich ist er zu 20 Prozent eingespannt, in der Firma seines Cousins kümmert er sich um die Bewirtschaftung der Social-Media-Kanäle. Wie er das hinbekommt? Er macht es gleich selber vor, fährt mit dem Elektrorollstuhl an seinen Schreibtisch, auf dem grosse Bildschirme stehen. An der Tischplatte ist diese rote IntegraMouse befestigt, die er mit dem Mund bedient.

Gion Stiffler
Gion Stiffler

Das gefüllte Flitterwochen-Sparschwein

Mit regem Interesse verfolgt er zudem das Sportgeschehen. In der Wohnung hängt an einer Wand der Stock des US-Amerikaners Auston Matthews, der 2015/16 für die ZSC Lions spielte und seither in der National Hockey League (NHL) engagiert ist. Das Lieblingsteam von Gion Stiffler ist der HC Davos, «wer Stiffler heisst, kann eigentlich keine andere Mannschaft unterstützen», sagt er mit einem Schmunzeln. Ebenfalls hoch im Kurs ist bei ihm American Football - und da sind die New England Patriots seine Favoriten.

Einer der Charakterzüge von Gion Stiffler ist dessen Beharrlichkeit. Wenn er sich etwas vornimmt, versucht er mit aller Vehemenz umzusetzen. Ein Beispiel: Schon in Nottwil sagte er, er werde sich nicht tatenlos damit abfinden, den Rest seines Lebens im Elektrorollstuhl zu verbringen. «Ich will zumindest Fähigkeiten erlangen, um auf einen manuellen Rollstuhl wechseln zu können», sagt er. 

Und da ist noch etwas: ein prall gefülltes Sparschwein. Eigentlich sollte es längst leer sein, denn es war für die Flitterwochen bestimmt. Eine Reise nach Mauritius war geplant, aber sie fand bis heute nicht statt, weil Gion Stiffler plötzlich erkrankte. 

Aber abgeschrieben hat er Mauritius nicht. Er schaut seine Frau Manuela an und sagt: «Das holen wir nach. Und ich sitze in einem manuellen Rollstuhl.»

 

Text: Peter Birrer

Fotos & Video: Walter Eggenberger

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