«Der Wortfinder, der nicht sprechen kann.»
Stefan Wermuth leidet an Zerebralparese und kann sich deshalb mündlich nicht ausdrücken. Trotzdem gewann er einen Schreibwettbewerb.
Da sitzt ein schwerstbehinderter Mensch in einem Rollstuhl, mit offenem Mund und ausschlagenden Armen, als würden Stromstösse durch den Körper schiessen. Er leidet an Zerebralparese, die Spastik wird ihn nie mehr verlassen. Stefan Wermuth heisst er, wohnhaft in Giswil. Sprechen kann er nicht, doch er schreibt Sätze wie diesen: «Ich würde gern wissen, wie andere Glück definieren.» Unter der Woche lebt Stefan Wermuth oberhalb des Sarnersees in der Stiftung Rütimattli in Sachseln, Wohnort und Arbeitsplatz für Menschen mit Beeinträchtigungen aller Art. Auf dem Parkplatz der Stiftung versucht der Fotograf, Momente zu erwischen, in denen Wermuth die Zunge nicht weit herausstreckt. Es braucht mehrere Anläufe, die Nervosität ist gross. «Bitte Zunge reinnehmen», sagt Barbara Disler. Sie ist eine der Koordinatorinnen für unterstützte Kommunikation im Rütimattli, sie kennt ihn seit elf Jahren. Er sei 32 Jahre alt, antwortet sie. Hätte sie 22 oder 42 gesagt, hätte man ihr auch geglaubt. Es gibt kaum Anhaltspunkte, die Rückschlüsse auf sein Alter zulassen. Bei der Geburt bekam er zu wenig Sauerstoff. Seither sind Teile seines Hirns beschädigt. Er kann keine Lautsprache erzeugen. «Aber er hat eine komplette Sprache im Kopf», sagt Disler. Wermuth unterbricht mit impulsiven Ausrufen: «Aaaaah!
Aaaaah!», als sei er genervt. «Er mag es nicht wirklich, wenn er gerühmt wird», erklärt Disler.
Die linke Armlehne bedeutet «Nein»
Die Sprache ist in ihm drin. Nur fehlen ihm die Kanäle, um sie nach aussen zu tragen. Also wurden ihm Wege aufgezeigt, um zu kommunizieren. Seine Mutter hatte ihn früh gefördert, weil sie an sein Potenzial glaubte. Sie lehrte ihn schreiben mit einer Schreibtafel. Auf der linken Seite seines Rollstuhls ist die Tafel festgezurrt. Das ganze Alphabet steht drauf, dazu Zahlen von 1 bis 10. Wenn man seine linke Hand nimmt und den Zeigefinger ein wenig abspreizt, tippt er auf die Buchstaben. Will er eine Frage nur bejahen oder verneinen, geht es einfacher. Blickt er auf die linke Armlehne des Rollstuhls, heisst das «Nein», die rechte Armlehne bedeutet «Ja». Manchmal geht das so schnell, dass es nur die Betreuerin wahrnimmt. Vor acht Jahren kam der Sprachcomputer hinzu. Mit seinen Augen kann Wermuth auf dem Bildschirm, der am Rollstuhl befestigt ist, Symbole oder Buchstaben fixieren und sie damit anwählen. Durch den Lautsprecher sind die Worte dann zu hören. Mit dem Computer schrieb er einen der beiden Texte, die er in Deutschland bei einem literarischen Schreibwettbewerb einreicht hat. Der Wettbewerb heisst «Die Wortfinder» und richtet sich an behinderte Menschen. 1100 Personen nahmen teil, 300 Preisträger gab es. Von Wermuth wurde ein Text prämiert, er reiste an die Preisverleihung nach Bielefeld. Er schreibt: «Wir sind mit dem Zug gefahren, das hat Spass gemacht, im Hotel mussten mich Männer die Treppe hochtragen, am Abend sind wir zur Preisverleihung. Ein Mann hat Musik gemacht, es waren viele Leute da.» Er beantwortet die Fragen schriftlich. Die Wörter bestehen aus lauter Grossbuchstaben, die Satzzeichen fehlen meistens. Ende letzten Jahres bekam er die Fragen zugestellt, damit er genügend Zeit hatte, die Antworten in den Computer einzugeben. Dass er nicht in Echtzeit kommunizieren kann, stört ihn nicht. Menschen, die ihm keine Zeit geben, nerven ihn hingegen. «Manchmal ist das scheisse, weil halt nicht alle Geduld haben, um mich zu verstehen », schreibt er. Simple Fragen kann er durchaus spontan mit dem Sprachcomputer beantworten. Das tut er auch, als die Nervosität schwindet. «Wie alt bist du eigentlich?», lautet die Frage. Es verstreichen Sekunden, die Antwort folgt aus dem Lautsprecher. «Das hast du schon einmal gefragt.» Er grinst.
«Geräteeinstellungen, Geräteeinstellungen»
Der Humor kommt trotz kommunikativer Hürden an. Wenn Barbara Disler eine Antwort ihres Klienten ausführt, streut er «Wahrheit» oder «Ja, ja, ja» ein. Manchmal verwählt er sich auch, «Geräteeinstellungen, Geräteeinstellungen, Geräteeinstellungen » ist dann zu hören. In seinen literarischen Texten finden sich auch weniger bedeutungsschwere Sätze. Unter dem Titel «Meine Gedanken sind frei» schreibt er lakonisch: «Ich esse gern Wasser und trinke Pizza. Übrigens: Ich erzähle immer die Wahrheit! » Die Stelle stammt aus dem Text, der in Bielefeld ausgezeichnet wurde. Für die interne Zeitung der Stiftung verfasst er auch journalistische Beiträge, etwa Berichte zu Ausflügen, zu Samichlausbesuchen, zur Fasnacht. Was glaubt er denn, wie andere Glück definieren? Wermuth hat darauf keine eindeutige Antwort. Er glaubt, dass viele Leute nicht glücklich seien, weil sie nicht um die Schönheit des Lebens Bescheid wissen. «Sie jammern lieber, als sich zu freuen. Das ist aber dumm, weil es gar nichts bringt.» Es ist eine leichte Rechnung – an sich. Erstaunlich nur, dass sie von jemandem in Erinnerung gerufen wird, der über vieles jammern könnte.
Text: Claudio Zanini
Bild: Philipp Schmidli
Beitrag erschienen: Schweiz am Wochenende / Luzerner Zeitung, 29.2.2020
Besten Dank für das freundliche Einverständnis, diesen Beitrag über den langjährigen AC-Kunden Stefan Wermuth auf unserer Website veröffentlichen zu dürfen!
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