Wie kommuniziert man mit seiner Wohnung?
Gaby Pozzi ist hochgelähmt. Dank zwei Funktionsarmen und Hilfsmitteln zur Steuerung der Umgebung kann sie wieder selbstständig am Leben teilnehmen.
«Einen Moment, ich komme», sagt die Stimme aus der Gegensprechanlage. Bald darauf geht die Lifttüre auf und Gaby Pozzi empfängt den Besuch mit einem neugierigen Lächeln. Auf dem Weg zurück in ihre Wohnung betätigt sie gewisse Tasten auf dem Handy – und schon setzt sich der Lift in Bewegung, geht das Licht im Verbindungsgang an, öffnet sich die Wohnungstüre. Mit einem weiteren Tastendruck drehen sich die Jalousien und geben eine atemberaubende Aussicht auf die Biegung der Limmat frei. Mit Spezialhandschuhen, die mit Gummi verstärkt sind, manövriert die hochgelähmte Frau ihren elektrounterstützten Rollstuhl an den Esstisch. «Ohne Umgebungssteuerung wäre ich Tag und Nacht auf eine Begleitperson angewiesen», schildert die 59-Jährige ihre Situation. Zwar benötigt sie eine Assistenz für die Körperpflege, das Ankleiden und Kochen, doch mit gezielt eingesetzten Hilfsmitteln ist sie heute so weit selbstständig, dass sie alleine das Haus verlassen und einer Teilzeitarbeit nachgehen kann. Ihre Wohnung in Ennetbaden steuert sie über eine App auf dem Smartphone.
Hart erkämpfte Fortschritte
Seit jenem schicksalhaften Tag vor elf Jahren hat sich hier viel verändert. Es war ein Velounfall an einer Kreuzung. Gaby Pozzi wird von einem Auto angefahren, sie bricht sich zweimal die Halswirbelsäule und hat Kopfverletzungen. Als Notfall kommt sie nach Nottwil. In den Jahren nach der Rehabilitation kann ihr die Handchirurgie des Schweizer Paraplegiker-Zentrums in mehreren Operationen sowohl links wie rechts einen Funktionsarm herstellen. Damit wird es der Tetraplegikerin besser möglich, einfache manuelle Tätigkeiten auszuführen, etwa einen Schalter bedienen oder eine Hand schütteln. Mit weiteren Hilfsmitteln bedient sie den Computer. Es sind hart erkämpfte kleine Fortschritte. Sie erschliessen der Betroffenen neue Dimensionen der Kommunikation und damit der Selbstständigkeit. «Mich erstaunt immer, wie viel Freiheit man mit wenigen Hilfsmitteln erreichen kann», sagt Elia Di Grassi von Active Communication, einer Tochterfirma der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Der Berater mit breitem technischem Fachwissen hat Pozzis Umgebungssteuerung so eingerichtet, dass sie über ein am Rollstuhl befestigtes Kontrollgerät die wichtigsten Funktionen in ihrer Wohnung auslösen kann. Als Eingabegerät dient der Handy-Bildschirm mit einer speziell programmierten App. Diese erlaubt es Pozzi, ihr Handy als ganz normales Smartphone zu verwenden. «Telefonieren, Nachrichten senden, Apps nutzen – und alles nur über einen Knopf», freut sich der Berater über die gefundene Lösung.
Knopf oder Stimme?
Wäre es nicht bequemer, statt eines Knopfs die Stimme zu nutzen? «Sprachsteuerungen sind auf dem Vormarsch, aber sie sind noch zu fehleranfällig », erklärt der Experte. Was soll ein Mensch mit Einschränkungen machen, wenn Internetanwendungen wie Apples Siri oder Amazons Alexa stumm bleiben und die Haustüre nicht mehr öffnen? Oder das WiFi abstürzt? Oder nach einem Android-Update das Handy nicht mehr durch Zurufe aus dem Standby-Modus geht? Wegen solcher Unzuverlässigkeiten setzt Active Communication die Stimme noch nicht für sensible Anwendungen ein. Einschränkungen der Sprachsteuerung entstehen auch, weil bei den Nutzerinnen und Nutzern eine gewisse Deutlichkeit der Aussprache gegeben sein muss. Auch Datenschutzbedenken sind zu berücksichtigen. Denn über die trendigen Geräte der Unterhaltungselektronik und die digitalen Home-Assistenten hören grosse amerikanische Technologiefirmen bei uns zu Hause alles mit, was gesagt wird. Ihr Datensammeln gefällt nicht allen. Dennoch ist Di Grassi überzeugt, dass zukünftig viel mehr Anwendungen über die Stimme angesteuert werden.
Unsicherheit der Vermieter
Bei Pozzi sind nur Funk- und Infrarottechnologien im Einsatz, die eine hohe Sicherheit garantieren. Die Herausforderung ihres Beraters war es, die Signale der bereits vorhandenen Empfangsgeräte miteinander kompatibel zu machen und in ein Gesamtsystem zu integrieren. Da steckt der Teufel oft im Detail, denn einzelne Hersteller nutzen unterschiedliche Standards. Und Gaby Pozzi ist auf diverse Funktionalitäten angewiesen, die ihre Selbstständigkeit ermöglichen. «Dass ich mich heute nachts bei einem Problem über das Telefon bemerkbar machen kann, ist für mich eine grosse Erleichterung», sagt sie. Das Leben als Tetraplegikerin bedeute einen enormen Organisationsaufwand. Da ist bereits jedes Detail, das sie zu Hause selber erledigen kann, von unschätzbarem Wert. In ihrer Terrassenwohnung in Ennetbaden konnte sie nach dem Unfall grössere Umbauten vornehmen und einen Lift samt Verbindungsgang einbauen. Nur wenige Hausbesitzer sind dazu bereit. So muss sie heute auf der Suche nach einer neuen Wohnung viel Überzeugungsarbeit leisten: «Die Vermieter sind unsicher, weil sie die Geräte nicht kennen; so entstehen Ängste. Und beim Auszug muss wieder alles zurückgebaut werden.» Oft sind nur kleine Installationen nötig, die aber Grosses bewirken.
Knopf auslösen genügt
«Unser Ziel sind einfache und zweckmässige Lösungen für Funktionen, die der Körper nicht mehr selber ausführen kann», sagt Elia Di Grassi. Seine Tätigkeit im Team von Active Communication erlebt er als ausgesprochen befriedigend: «Wir gehen zu einer Person nach Hause, die nur mündlich kommunizieren kann. Und am Abend bekommen wir ein Dankesmail oder eine Whats-App-Nachricht: ‹Super, es funktioniert alles!› Das ist für mich ein Highlight dieser Arbeit.» Schon die kleinste körperliche Möglichkeit, einen Knopf auszulösen – sei es über einen Funktionsarm, eine Lippenmaus oder eine Augensteuerung – ist für die Betroffenen ausreichend. Mit den geeigneten Hilfsmitteln können sie damit alle weiteren Anwendungen steuern und sind in die Gesellschaft integriert.
Beitrag erschienen: Gönner-Magazin Paraplegie, März 2020, Nr. 173
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