Ziemlich beste Freunde

Urs Engeli

Urs Engeli kann nur noch seinen Kopf bewegen – Hyacinthe Yameogo ist «seine Hände und Füsse»

Sie verbringen zwei Tage pro Woche miteinander. Und das seit viereinhalb Jahren. Es ist eine ganz spezielle Geschichte, jene von Tetraplegiker Urs Engeli und der Assistenzperson Hyacinthe Yameogo – eine wie im Film.

«Intouchables» oder zu Deutsch «Ziemlich beste Freunde», der französische Kinohit aus dem Jahr 2011. Im Wohnzimmer der Engelis in Rüdikon wähnt man sich mitten in diesem Filmset. Ein Tetraplegiker, sein dunkelhäutiger Assistent, beide mit verrückten Ideen. Hyacinthe Yameogo und Urs Engeli lachen – zum x-ten mal. «Würde er endlich den Führerschein machen, wären wir wie im Film öfter mit dem Auto unterwegs», sagt Engeli. Den Film sah er sich im Kino an. «Als ich den Tetraplegiker im Gleitschirm sah, dachte ich mir: Das will ich auch.» Und er hat es getan. «Es war eine spontane Entscheidung, eine Eingebung.» Oberhalb von Emmetten hob Urs Engeli ab.

Seit zwölf Jahren Tetraplegiker

«Wasser.» Hyacinthe Yameogo greift zur Wasserflasche und hält sie Urs Engeli an den Mund. Die beiden sind ein eingespieltes Team. «Seelenverwandt », nennt es Engeli. Allein sein, das kann der Tetraplegiker laut IV maximal eine Stunde. «Viel länger geht wirklich nicht.» Täglich kommt die Spitex, auch seine Partnerin Flurina ist oft zu Hause. Geht sie arbeiten, ist eine Assistenzperson da, eine davon ist Hyacinthe Yameogo, in Burkina Faso geboren, seit Jahren in Muri wohnhaft, Hausmann, Assistenzperson, Frohnatur. «Er zeigt mir eine neue Welt, seine Welt», sagt Engeli. Sie diskutieren, philosophieren. Sein Lachen, es sei so wunderbar ansteckend. Und eben, er ermöglicht es ihm, sein Leben zu einem gewissen Teil selber zu gestalten. Und dies, obwohl Engeli seit zwölf Jahren nur noch seinen Kopf bewegen kann. Yameogo kocht beispielsweise, was Engeli will, «aber nicht, wie ich es will». Gelächter. «Ich kann gar nicht zufrieden sein. Fremde Hände erledigen die Arbeit nie so, wie ich es will.» Urs Engeli meint es alles andere als böse. Die beiden, sie verstehen sich blind. Von ihrer speziellen Verbindung profitiert auch ein Dorf in Yameogos Heimat.

«Ich bin ein Wackeldackel», sagt Urs Engeli und grinst. Reden und seinen Kopf bewegen – zwei der wenigen Dinge, die der 54-Jährige noch tun kann. «Wackeldackel» ist für ihn eine Art Synonym für Tetraplegiker. Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass das Wort Urs Engeli bestens beschreibt – viel mehr als seine körperlichen Fähigkeiten steht es für seinen sarkastischen, trockenen Humor. Engeli und Hyacinthe Yameogo lachen, wobei kichern bei Yameogo wohl der treffendere Begriff wäre. Es schüttelt ihn. Gemeinsam lachen, das tun sie auch in Situationen, in denen es für Aussenstehende unpassend scheint. Etwa, wenn es um den Tod geht. «Selbst wenn wir zusammen weinen, lacht Hyacinthe mit dem ganzen Körper. Einmalig», sagt Engeli. Hyacinthe Yameogo und Urs Engeli sind seit viereinhalb Jahren ein Team. Seit dann besucht der in Burkina Faso geborene Murianer Engeli in seinem Hausteil in Rüdikon, einem Dorfteil von Schongau. Hier leben Engeli und seine Partnerin seit über vier Jahren, vorher waren sie auf dem Oberniesenberg zu Hause, noch vorher in Oberlunkhofen und Jonen. Auf dem Land fühlt er sich wohl. Weil zu seiner Familie auch Tiere gehören, Schafe, Kaninchen, Katzen und ein Hund. Für sie sorgen kann Urs Engeli schon lange nicht mehr. Auch hier hilft die Assistenzperson mit. Im Augenwinkel blickt er zu Hyacinthe Yameogo. «Meine Arme und meine Beine », sagt Urs Engeli.

Zuerst Migrationsfachmann, jetzt Hausmann

Kennengelernt haben sich die beiden zufällig. Der 46-jährige Burkinabe lebt seit zehn Jahren in der Schweiz. «Wegen der Liebe», sagt Hyacinthe Yameogo und lacht. «L’amour.» In seiner Heimat arbeitete er als Sozialpädagoge in einem Waisenhaus. Frisch in der Schweiz war er als Migrationsfachmann in Biel tätig. Mittlerweile ist Hyacinthe Yameogo Hausmann, kümmert sich um den Haushalt und um die beiden Kinder. Weil sein Sohn mit einem offenen Rücken zur Welt kam und Betreuung rund um die Uhr brauchte, machte er diesen Schritt. «Er ist der beste Hausmann, den ich kenne. Und ich kenne einige», sagt Urs Engeli lächelnd. Aber eben, seit viereinhalb Jahren ist Hyacinthe Yameogo auch Engelis Betreuungsperson. Über eine Freundin von Yameogos Frau – Urs Engelis Ergotherapeutin, eine Murianerin – kam der Kontakt zustande. Als Engeli herausfand, dass er Assistenzbeiträge beziehen kann – «gesagt hätte mir das niemand» –, kamen sie ins Gespräch. Auf dem Oberniesenberg sahen sie sich zum ersten Mal. «Wir sahen uns in die Augen und wussten: das passt.» «Seither ertragen wir uns», meint Urs Engeli schelmisch.

Noch im Rollstuhl unterrichtet

Täglich kommen Spitexmitarbeitende vorbei. Engeli und seine Partnerin schwärmen von der Spitex Muri und Umgebung. Mit dem Umzug in den Kanton Luzern wechselten die Betreuerinnen. Seit zwölf Jahren ist er komplett gelähmt, kann nur noch seinen Kopf bewegen. «Vorher konnte ich mindestens noch selber rauchen», sagt Engeli. Nachdem er sich mehrmals die Finger verbrannt hatte, weil er die Zigarette nicht mehr selber aus der Hand legen konnte, entwickelte er eine spezielle Halterung, die ihm das Rauchen weiterhin ermöglicht. Multiple Sklerose, «die Krankheit der unzähligen Gesichter», begleitet Urs Engeli schon lange, schon die Hälfte seines Lebens. 27-jährig kamen die ersten Symptome, zwei Jahre später die Diagnose. Seither ist die Krankheit chronisch progressiv fortgeschritten. «Heisst, es wird immer schlimmer.» Medikamente gibt es für diese Art der Krankheit keine. «Geforscht wird, aber Medikamente wirken nur bei der schubförmigen MS, jeweils zwischen den Schüben», weiss der 54-Jährige. Eigentlich ist Engeli Stadtzürcher und Lehrer. Die Diagnose erreichte ihn nach einem Alpsommer. Zurück in die Stadt wollte er nicht mehr. Kleintierhaltung, das sollte sein neuer Ausgleich zum Lehrerberuf sein. Und dafür brauchte es eine ländliche Umgebung. Als Lehrer blieb Engeli tätig, bis es nicht mehr ging. Die letzte Klasse unterrichtete er im Rollstuhl. Vorher stand das Gefährt zwei Jahre im Schulzimmer, obwohl er es erst selten brauchte. Als Vorbereitung für ihn – und für die Schüler.

Psychische Abgründe

Hyacinthe Yameogo und Urs Engeli – sie sind ein eingespieltes Team. Und sie profitieren voneinander. «Mein Deutsch ist viel besser geworden, seit ich hier arbeite», sagt Hyacinthe Yameogo. Aber immer einfach sei es nicht. Im Gespräch wirkt Urs Engeli fröhlich, trotz Krankheit. Humorvoll, trotz ausbleibender Aussicht auf Besserung. Agil, trotz fehlender körperlicher Freiheit. Aber er lässt aufblitzen, dass dem nicht immer so ist. Engeli spricht davon, dass er auch ein Stinkstiefel sein könne. Seine Abgründe, die hat er. «Wenn es ihm schlecht geht, kann ich gar nichts für ihn tun. Das macht mich schon traurig. Ich kann ihm nicht helfen, nur mein Herz und meine Persönlichkeit ihm geben», sagt Hyacinthe Yameogo. «Das ist genug.» Urs Engeli sagt es langsam, ruhig, liebevoll und zu hundert Prozent erst gemeint. «Das Ziel habe ich erreicht», sagt Urs Engeli. 40-jährig, so alt wollte er werden, als die Diagnose schwarz auf weiss feststand. Der 54. Geburtstag war ein weiteres Ziel – die Hälfte des Lebens mit MS, die Hälfte ohne. Auch das hat Engeli erreicht. Seit Jahren ist er Mitglied der Sterbehilfeorganisation Exit. «Ein Anruf genügt, und ich kann um 11 Uhr und 30 Sekunden den letzten Schluck trinken.» Dann, wenn die Glocken der Kapelle in Rüdikon erklingen. So stellt es sich Engeli vor. Nur, der Anruf müsste ein bis zwei Wochen im Voraus kommen. Sterbehilfe, darüber streitet er immer wieder mit seiner Assistenzperson. «Daran habe ich keine Freude. Das Leben gehört der Natur und diese entscheidet, wann es vorbei ist», sagt der Burkinabe. Sterbehilfe sei nicht Natur. «Aber ich bin Teil der Natur», entgegnet Engeli. Sie grinsen. Dass sie diese Diskussion nicht zum ersten Mal führen, ist offensichtlich. Auch wenn ihre Ansichten noch so weit auseinander liegen, das Lächeln verbindet ihre Herzen. «Deux fous.» Zwei Verrückte, so beschreiben sich die beiden.

An guten Tagen viel zu erleben

Viel bleibt nicht mehr auf der Bucket List. Es gibt fast nichts mehr, was Urs Engeli unbedingt noch sehen oder erleben will. «Frei und entspannt sein.» Frei im Geiste, das ist er. Körperlich frei und entspannt sein – Dinge, die sich bei ihm oft widersprechen. Seinen Rollstuhl kann er nur mit dem Kopf bewegen. Ist er damit länger unterwegs, verkrampft sich die Nackenmuskulatur. Aber Wut? «Was ist Wut? Ich kann es sowieso nicht ändern. Ich könnte schreien, es würde nichts bringen. Dreimal tief durchatmen ist mir mittlerweile lieber.» Und Engeli weiss, ist er in guter Stimmung, kann er mit seinen Assistenzpersonen viel Tolles erleben. Er erinnert sich etwa, als vor zwei Jahren Hyacinthe Yameogo erstmals mit seinen Kindern nach Burkina Faso reiste. «Vorher gingen wir zur Kapelle in Rüdikon. Er ging hinein, ich wartete draussen. Zusammen sangen wir, damit alles gut geht.» An guten Tagen geht das. Und an schlechten? Dann hilft nicht einmal das Gelächter von Hyacinthe Yameogo.

Text und Bild: Annemarie Keusch
Beitrag erschienen: Der Freiämter, Freiämter Regionalzeitung, 6. März 2020. Nr. 18, 157. Jahrgang
Besten Dank für das freundliche Einverständnis, diesen Beitrag über den langjährigen AC-Kunden Urs Engeli auf unserer Website veröffentlichen zu dürfen!

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