Ihre Welt ist nicht mehr düster
Ein Unfall mit dem Gleitschirm machte Franziska Quadri 2009 zur Tetraplegikerin. Die 46-jährige Zürcherin fasst nach schwierigen Jahren neuen Lebensmut - und ist für viele Menschen ein Vorbild.
Ob sie Erwartungen habe? Die Hoffnung, dass sie vielleicht, irgendwann, beide Hände bewegen kann? «Was ich bekomme», antwortet sie, «nehme ich dankend an.» Aber sie klammert sich nicht daran, sie denkt nicht jeden Tag, wie das Leben wäre, wenn sie sich nur schon selbstständig und minim bewegen könnte. «Ich bin zufrieden», sagt Franziska Quadri, «ich lebe im Hier und Jetzt, und ich besitze einen Luxus, den viele Menschen nicht haben: Zeit.»
Seit dem 17. Mai 2009 ist in ihrem Leben nichts mehr wie vorher. An jenem Tag hat sie vor, mit dem Gleitschirm im Berner Jura in die Luft zu steigen, aber beim Start stolpert sie unglücklich. Der Schirm schleift sie mit, aber nicht in die Höhe. Er rammt sie mit voller Wucht in den Boden und sie zieht sich schwere Verletzungen zu. Drei Halswirbel sind gebrochen, und Quadri realisiert noch auf der Wiese, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Sie hat zwar Gefühl in Armen und Beinen, kann sie aber nicht mehr bewegen. Der Unfall hat sie zur Tetraplegikerin gemacht.
In eine eigene Wohnung gezogen
Im Notfall des Berner Inselspitals wird ihr das bewusst, als ihr die Kleider vor der Operation aufgeschnitten werden. Sie wird am Tag danach ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum nach Nottwil gebracht, später in die Universitätsklinik Balgrist. Eineinhalb Jahre verbringt sie in Spitälern, dann bezieht sie ihre eigene Wohnung. Allein. Ihr Freund hat es nicht verkraftet, Franziska leiden zu sehen, mitzubekommen, wie heftige Schmerzen sie plagen.
Franziska Quadri stösst nicht nur an ihre physischen, sondern auch an ihre psychischen Grenzen. Sie ist traurig und wütend, oft weint sie, die ganze Palette an Emotionen gehört zur Tagesordnung. Vor ihrem Unfall hat sie als Graphikerin in einer Werbeagentur gearbeitet und erfahren, dass der Schwager des Chefs einen Badeunfall erlitten hat und seither Tetraplegiker ist. Sie denkt sich damals: «So macht das Leben doch keinen Sinn mehr!»
Jetzt ist sie selber in diese Situation geraten, und es ist lange unerträglich. Nahrung kann sie kaum halten, der Schmerz treibt sie in den schieren Wahnsinn. Aber sie gelangt an einen Punkt, an dem sie sich fragt: Will ich weiterhin pausenlos traurig sein? Höre ich lieber auf zu leben? Oder finde ich endlich einen positiven Ansatz?
Jahr für Jahr ein Selbstporträt
Sie entscheidet sich für die dritte Variante und schafft das, als würde sie einen Schalter umlegen. Quadri ändert nach rund siebeneinhalb Jahren ihre Einstellung. Ihre Welt ist nicht mehr düster, das ist allein an den Selbstporträts erkennbar, die sie jeweils am Unfalltag mit Hilfe eines Therapeuten malt. Jahr für Jahr werden sie heller, freundlicher, bunter, sie sind Ausdruck einer Stimmung, die immer besser geworden ist. Auf dem siebten Bild ist der Nebel verschwunden, das achte Bild ist das bislang farbigste.
Franziska Quadri fragt sich nicht mehr ständig, was sie überhaupt mit ihrem Leben noch anfangen soll. Und sie findet Wege, um die anhaltenden, wahnsinnigen Schmerzen einigermassen auszuhalten. Zum einen verbringt sie mehrere Wochen im Winter an der Wärme von Teneriffa, die angenehmen Temperaturen wirken sich wohltuend aus. Zum anderen lindert sie die stechenden neuropathischen Schmerzen vom Hals an abwärts mit dem Rauchen von Cannabis.
Cannabis als Medikament legalisieren
Joints sind illegal, aber Quadri setzt sich mit allem, was sie hat, dafür ein, dass Cannabis als Medikament in der Schweiz legal erhältlich ist. Sie ist ehrenamtliche Präsidentin des Medical Cannabis Vereins Schweiz, vertritt dessen Anliegen, erhebt ihre Stimme für Patientinnen und Patienten und wird nicht aufgeben, bis sie ihr Ziel erreicht hat. «Ich bin ein extrem lösungsorientierter Mensch», sagt sie, «wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, unternehme ich alles, um es zu realisieren.» Sie weiss: Sie ist mit ihrer Art, wie sie dem Schicksal begegnet, für viele Menschen ein Vorbild. Aufgeben, das ist für Franziska Quadri klar, ist nie eine Option. «Geht nicht, das gibts nicht», sagt sie.
Franziska Quadri lebt in der Stadt Zürich und wird rund um die Uhr betreut. Dafür hat sie zwei Assistentinnen angestellt, die sich abwechseln. Die eine stammt aus Polen, die andere aus der Slowakei, und beide bezahlt sie selber. Das muss sie, obwohl sie deswegen bis ans Bundesgericht gelangte, dort aber verlor. Bei Unfall bestehe kein Anrecht auf Assistenzbeiträge. Der Anteil der Pflege wird von der Unfallversicherung und der Krankenkasse übernommen.
«Lebensnotwendiges Hilfsmittel»
Eine unverzichtbare Stütze im Alltag ist das HouseMate von Active Communication, welches ihr via Handy das Tor zur Welt öffnet, sie bezeichnet es als «lebensnotwendig». Die entsprechenden Apps auf ihrem Smartphone bedient sie mit spezieller Technik: Mit Saugen an einem Schlauch steuert sie das Gerät und kann so Türen oder Fenster aufmachen, das Licht an- und ausmachen oder den Fernseher einstellen und online Schach spielen. Die Arbeit am Laptop funktioniert über die Kinnsteuerung. «Die Bedienung ist sehr einfach», sagt sie, «das Hilfsmittel gibt mir ein grosses Stück Unabhängigkeit. Ich kann mit meinen Freunden problemlos kommunizieren. Dürfte ich etwas wünschen, möchte ich das Gerät gerne mit den Augen steuern können.» Ein solches Testprojekt ist mit Active Communication bereits in Planung, damit Franziska Quadri ihren Laptop auch im Bett bedienen kann.
Franziska Quadri lebt in ihrer Wohnung zwar nicht allein, eine Assistentin ist ständig da. «Es ist überhaupt nicht so, dass ich vereinsame», sagt sie, «aber es wäre schön, wieder einmal eine Beziehung zu haben.»
Text: Peter Birrer
Bilder: Jonas Pfister
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