Sandra Laube mit Labrador-Hündin Daisy zu Hause in Schwyz.

Ausgebremst

Sandra Laube geht temporeich durchs Leben und erfüllt sich viele Träume – bis sie Traumatisches erlebt. Ein unverschuldeter Autounfall macht die Zürcherin zur Tetraplegikerin. Sie erleidet eine schwere Lebenskrise und lernt dabei: Auf ihren Mann kann sie sich immer verlassen.

Text: Peter Birrer
Foto: Sabrina Kohler

Was ist bloss aus mir geworden? Ist das jetzt mein Leben? Und macht es so noch Sinn? – Allein die Erinnerung an solche Fragen während der schlimmen Monate nach ihrem Unfall lassen ihr Tränen in die Augen schiessen. Das Lachen, eigentlich ihr Markenzeichen, verschwindet aus dem Gesicht. Die Emotionen zeigen, wie sehr sie gelitten hat und wie sehr sie heute immer wieder leidet.

Sandra Laube schildert Momente einer Krise, in der sie nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Schmerz aushalten muss, aber fast nicht aushalten kann. Das Gefühl der Überforderung bringt sie an Grenzen. «Ich kam mir als Frau entwürdigt vor», sagt sie und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. «Es wuchs mir alles über den Kopf, es war ein Riesenschock.»

Der erste Rückschlag

Mit zwanzig Jahren zieht sie in ihre eigenen vier Wände in Zürich-Seebach und lernt Theo kennen. Neun Monate später heiraten sie und kaufen ein Haus in Bassersdorf ZH – natürlich mit Pool. Einen Hund haben sie auch. Und mit 22 Jahren wird Sandra Mutter von Priscilla. Die Erzählung klingt fast kitschig, als wäre ein Plan am Reissbrett entworfen worden.
Sandra Laube arbeitet als Finanzberaterin, ihr Mann ist in der Versicherungsbranche tätig. Sie verdienen gut, leisten sich schöne Ferien und sagen rückblickend: «Wir gaben Vollgas und befanden uns lange auf der Überholspur.» Aber 2007 wird Sandra Laube gezwungen, ihr Tempo zu drosseln. Sie stürzt mehrere Meter eine Treppe hinunter. Der linke Arm ist vom Handgelenk bis zum Schulterblatt zertrümmert. Mehrere Eingriffe sind notwendig, der Arm wird schliesslich versteift.
«Für mich war das eine Katastrophe», erzählt sie. Sie ist sportlich aktiv, surft und fährt Ski, Mountainbike und Rollerblades. Doch jetzt muss sie ihren Bewegungsdrang einschränken. Mit der Zeit lernt sie, mit ihrem gelähmten Arm zurecht zukommen: «Es pendelte sich alles wieder einigermassen ein.»

Unfall mit brutalen Folgen

2020 sitzt Sandra Laube als Beifahrerin entspannt neben Theo im Auto. Sie fahren eine Passstrasse runter, als der Wagen vor ihnen blinkt, um abzubiegen. Im Rückspiegel sieht Theo einen anderen Wagen rasch näherkommen, dessen Lenker die Situation völlig falsch einschätzt. Sie haben keine Chance. Beim heftigen Auffahrunfall trägt Theo verhältnismässig leichte Blessuren davon. Doch Sandra erwischt es brutal.

Im Spital wird sie notfallmässig am Rücken operiert. Komplikationen treten auf. Sie erleidet eine schwere Blutvergiftung (Sepsis) und durch die Infektion ist ihr Rücken voller Eiter. Eine zweite Notoperation ist notwendig. Theo Laube lehnt zunächst ab, lenkt aber ein, als er erfährt, dass seine Frau stirbt, wenn sie nichts tun. Sandra Laube hat nur vage Erinnerungen an den Tag des Unfalls und die Stunden danach. Aber zwei Dinge sind haften geblieben: der unfassbare Schmerz und die «krassen Medikamente.» Erst mit der Zeit realisiert sie ihre Querschnittlähmung. Aufgrund der Rückenmarkverletzung kann sie nur noch ihren rechten Arm bewegen, mehr nicht.

Sandra Laube mit ihrem Mann am lachen

«Mir wurde als Frau viel genommen»

Die Blase und der Darm funktionieren nicht mehr. Katheterisieren ist eine Option, bloss: Mit nur einem Arm funktioniert das nicht. Ein erneuter Eingriff erfolgt im Berner Inselspital, bei dem die Harnröhre umplatziert wird. Der natürliche Blasenausgang wird verschlossen und ein neuer Ausgang via Bauchnabel hergestellt. Über diesen Zugang erfolgt nun das Katheterisieren, zwölf Mal verteilt auf 24 Stunden. Nach mehrmonatigen Aufenthalten in verschiedenen Kliniken beginnt im August 2021 die Rehabilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil. Jetzt schlittert Sandra Laube in eine tiefe Krise, weil sie realisiert, was mit ihrem Körper geschehen ist.

Es sind Gefühle der Entwürdigung, Demütigung, der Fremdbestimmung. «Mir wurde als Frau viel genommen», sagt sie. Ein Sexualleben wie früher wird es nicht mehr geben. Als noch einschränkender empfindet sie die Notwendigkeit, von nun an ihre Blase und ihren Darm «managen» zu müssen, wie es so neutral heisst.
Als sie Anfang Mai 2022 Nottwil verlässt, verstärkt sich die Ohnmacht. Sie weiss, dass sie nicht mehr in ihre Wohnung in Schindellegi SZ zurückkehren kann, ein rollstuhlgängiger Umbau ist unmöglich. Und während sie in der Rehabilitation weilte, hat ihr Mann eine praktische Wohnlösung in Schwyz gefunden.

«Ich habe aufgehört, mir zu viele Gedanken zu machen. Ich lebe hier und heute und will nicht klagen.»

Sandra Laube
 Reittherapie in Nottwil.

Reittherapie in Nottwil.

Tränen fliessen während Monaten

«Okay, das ist jetzt mein Zuhause …», denkt Sandra Laube am neuen Ort. Sie muss sich mit der Umgebung zuerst anfreunden. Wobei ihr klar ist: «Wir hatten keine Wahl. Der Umzug war notwendig.»

So schön die Aussicht, so geschmackvoll die Einrichtung: Sandra Laube fällt in einen depressiven Zustand. Tränen fliessen immer wieder, und das während Monaten. Wilde Gedanken schiessen ihr durch den Kopf, auch der, dass es unter diesen Umständen wenig Sinn macht, weiterzuleben.


Früher war alles so leicht und unbeschwert, sie genoss das Spontane, das Abenteuerliche. Es kam vor, dass sie mit Theo und Tochter Priscilla vor einem Globus sass, mit verschlossenen Augen auf einen Punkt tippte und so festlegte, wo sie ihre Ferien verbringen werden. Aber jetzt? Wie soll sie reisen? Der Rollstuhl, das Katheterisieren – das geht niemals.

Theo Laube, ein sowohl zielorientierter wie pragmatischer Mensch, teilt ihre Zweifel nicht. Er zeigt durchaus Emotionen, aber sagt auch: «Es hilft Sandra nichts, wenn ich mitheule.» Er will sich nicht über Probleme aufregen, sondern die beste Lösung finden. Wenn Sandra von einem eigentlich «anderen Lebensplan» spricht, fällt ihm ein Zitat ein: «Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen …» Er hievt die 13-jährige Labrador-Hündin Daisy aufs Sofa und sagt: «Ist doch so?»

Ihr Mann ist für sie da

Für den selbstständigen Unternehmer sind Ausflüge der beste Mutmacher. Er fliegt mit Sandra nach Barcelona und Nizza, um ihr zu beweisen, dass nichts sie daran hindern kann. Und er lässt sich von keiner ihrer Tränen erweichen. Seine Beharrlichkeit zeigt mit der Zeit Wirkung.

Sandra Laube sagt: «Meine Familie unterstützt mich pausenlos.» Sie betont auch, dass sie sich mit ihrer schwierigen Situation arrangiert hat: «Ich möchte keine schlechte Stimmung verbreiten und nicht ständig jammern. Mir ist bewusst geworden, wie abrupt sich alles ändern kann. Und wie wertvoll die Gesundheit ist.»

Als Tetraplegikerin benötigt sie in ihrem Alltag Hilfe. Sie bekommt sie von ihrem Mann, der sich Zeit freimacht, um für sie da zu sein. Er transferiert sie morgens in den Rollstuhl, bringt sie am Abend ins Bett, unterstützt sie beim Katheterisieren, kocht, hört zu.

Nie wäre es Theo Laube in den Sinn gekommen, sich von Sandra abzuwenden. «Wieso auch?», fragt er. «Wir haben zusammen wunderschöne Dinge erlebt.» Der Unfall hat zwar einiges durcheinandergebracht, aber deswegen lassen sie sich nicht auseinandertreiben. «Es gibt Dinge, die sich nicht ändern lassen. Blättern wir also die Seite um und schlagen ein neues Kapitel auf.»

Sie spricht offen über alles

Sandra Laube hat sich damit abfinden müssen, abhängig zu sein. Sie tut sich immer noch schwer damit, sie ist aber enorm dankbar, dass sie mit ihrem Mann quasi einen Spitex-Ersatz hat. Er chauffiert sie überall hin, regelmässig auch für Therapien ins SPZ. Nottwil wurde für sie ein zentraler Ort, wo sie Freundschaften geschlossen hat und pflegt. Die Frau fällt mit ihren langen blonden Haaren und ihrer Orthese auf, deren exklusiven Stoffbezug Theo in den USA organisiert hat. «Die Leute nehmen es schon noch wahr, wenn die Blonde einfährt», sagt sie scherzhaft.
Das schwarze Loch existiere heute nicht mehr. Sie stört sich auch nicht mehr daran,

wenn Leute ihr hinterherblicken oder sie gar anstarren. Offen spricht sie über das «Käthle», das Katheterisieren: «Es gibt da nichts schönzureden», sagt Sandra Laube. «Und manchmal merke ich im Gespräch mit anderen Betroffenen, wie gut es ihnen tut, wenn jemand ohne Hemmungen vermeintliche Tabuthemen anschneidet.»
Die Lust am Reisen ist zurück. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, tun sie das. In mehr als neunzig Ländern war sie bereits. Und auch Konzertbesuche sollen wieder möglich werden, am liebsten an jene der deutschen Band Rammstein. Sie zeigt wieder das markante Lachen.

«Jetzt geht es aufwärts»

Was die Zukunft bringen wird? «Ich habe aufgehört, mir zu viele Gedanken zu machen», sagt Sandra Laube. «Ich lebe hier und heute und will nicht klagen.» Doch eine Angst begleitet sie: Dass sich ihr Zustand verschlechtert. Über zwanzig Operationen musste sie bereits über sich ergehen lassen, mehr sollen es nicht werden.

«So krass ich auch geschädigt bin, jetzt geht es aufwärts»:

Sandra Laube

Sandra Laube engagiert sich für Menschen mit Querschnittlähmung, so gut es ihre Kräfte zulassen. Seit Frühjahr sitzt sie als Aktuarin im Vorstand des Rollstuhlclubs Zentralschweiz, weil sie nicht nur dessen Leistungen konsumieren möchte, sondern auch die Vereinsaktivitäten mitgestalten. «In den vergangenen vier Jahren musste ich durch die Hölle», fasst sie ihre Geschichte zusammen. «Aber so krass ich auch geschädigt bin: Jetzt geht es aufwärts.»

Im Verarbeitungsprozess ist sie ein gutes Stück vorwärtsgekommen. Nur eines wird sie nie verstehen: «Der Unfallverursacher hat sich bis heute nicht entschuldigt.» Doch Sandra Laube will sich keine tausend Fragen mehr stellen. Sie hält sich an ein Motto, das von ihrem Mann stammen könnte: Man kann dem Schicksal nicht ausweichen.

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