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Das Wunder von Glarus

Kantonspolizist Heinrich Dürst wird auf der Autobahn A3 von einem Wagen erfasst, ringt mit dem Tod – und überlebt seine schweren Verletzungen. Der dreifache Familienvater kehrt als dankbarer Paraplegiker in den Alltag zurück.

Text: Peter Birrer
Fotos: Sabrina Kohler

Diesen heftigen Einschnitt in sein Leben trägt er für immer mit sich: Am rechten Oberarm prangt ein Tattoo mit einer zerbrochenen Uhr, deren Zeiger auf 7.45 stehen. Darunter flankieren eine Frau und drei Kinder einen Mann im Rollstuhl.

«Ich habe keinen Schicksalsschlag erlitten», sagt Heinrich Dürst mit Überzeugung. «Es hat sich nur mein Alltag verändert. Ich kann und will mich nicht beklagen.» Der bald 41-jährige Polizist ergänzt: «Wenn man nüchtern betrachtet, was passiert ist, dürfte ich eigentlich gar nicht mehr hier sein.»

Heinrich Dürst sitzt in seinem Haus in Netstal GL. Unweit davon erheben sich majestätisch wirkende Berge, der Vorderglärnisch, das Vrenelisgärtli oder der steile Wiggis. Im Winter hat die Sonne einen schweren Stand gegen die Gebirgszüge.

Heiri Dürst zeigt sein Tattoo.

Am rechten Oberarm trägt er das Tattoo mit einer Uhr und seiner Familie.

Wo Nachbarn Freunde sind

Für Heinrich Dürst, den im Freundeskreis alle Heiri rufen, ist Netstal nicht bloss ein Wohnort in einem Tal. Nirgends spürt er Heimat und Geborgenheit so sehr wie hier. Im Quartier leben nicht einfach Nachbarn, mit denen man zwischendurch plaudert, sondern echte Freunde, die füreinander da sind.

Aufgewachsen ist Heinrich Dürst im benachbarten Mollis. In Glarus absolviert er eine Polymechanikerlehre und die Ausbildung zum Betriebstechniker. Aber er möchte in diesem Beruf nicht alt werden, Routine und Bequemlichkeit behagen ihm nicht.

«Einfach kann jeder», pflegt er zu sagen. «Mir wird schnell langweilig, ich mag Herausforderungen.»

Im Frühling 2013 besucht er deshalb die Polizeischule. Für die Bevölkerung da sein, helfen, für Ordnung sorgen – das ist für ihn eine reiz- und ehrenvolle Aufgabe. Belastende Einsätze gehören ebenso zum Alltag wie lustige Begegnungen. Trifft er etwa am Bahnhof Glarus jemanden, mit dem er schon dienstlich zu tun hatte, hört er plötzlich: «Salut Heiri!» und muss schmunzeln. Dass er geduzt wird, stört ihn nicht. Er hat sich weit herum Respekt erarbeitet. Und Heiri Dürst liebt den Kontakt mit Menschen.

«Horrorszenario wird Wirklichkeit»

Am 9. Dezember 2021 ist er für den Bürodienst eingeteilt. Ein garstiger Donnerstag, er fängt um 6 Uhr an. Aber er setzt sich gar erst nicht an den Schreibtisch, denn bei der Autobahneinfahrt von der Raststätte Glarnerland in Niederurnen steckt ein Sattelschlepper im Schnee fest. Mit einem Kollegen soll er Massnahmen treffen, um das schwere Gefährt zu bergen. Und danach, sagen sich die beiden, ist es Zeit für eine Tasse Kaffee.

Heiri Dürst wechselt mit dem Chauffeur vor Ort ein paar Worte und leitet alles Nötige in die Wege. Dann knallt es fürchterlich. Es ist 7.45 Uhr. Er hat nichts davon im Gedächtnis, sein Erinnerungsfilm reisst am Tag zuvor. Dass er mit dem Chauffeur sprach und was dann passierte, erzählen ihm die Kollegen. Funksprüche, die er sich anhört, und Bilder aus Überwachungskameras helfen ihm, den Ablauf zu rekonstruieren.

Heiri Dürst bei der Polizei

Der Kantonspolizist steht neben dem Sattelschlepper, als eine 23-jährige Lenkerin in Fahrtrichtung Zürich die Kontrolle über ihr Auto verliert. Sie erfasst ihn mit rund hundert Kilometern pro Stunde. Dürst wird zwanzig Meter durch die Luft aufs Dach des Patrouillenwagens geschleudert, von dort fliegt er auf den Pannenstreifen und bleibt schwer verletzt liegen. Er bittet den Kollegen noch, ihn hochzuziehen: «Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen», sagt er ihm.

Die «Südostschweiz» wird schreiben: «Ein Horrorszenario wird Wirklichkeit.» Heiri Dürst sagt es so: «Eigentlich war ich tot. Wenn man so etwas überlebt, ist das ein Wunder.»

Rega fliegt trotz schlechten Wetters

Das Wetter ist schlecht, die Sicht miserabel. Doch der Pilot der Rettungsflugwacht Rega entschliesst sich, trotzdem zu fliegen. Vermutlich hat er dadurch das Leben des Schwerverletzten gerettet. Am Zürcher Unispital werden die Verletzungen festgehalten: schweres Schädel-Hirn-Trauma diverse Weichteilverletzungen am Kopf, neun Rippenbrüche, Riss der inneren Aortaschicht im Unterleib und in einer Beinarterie, Rückenfraktur mit aufsteigendem Hämatom, beide Beine vom Knie abwärts zertrümmert. Der heftige Aufprall hat den robusten Mann «innerlich in zwei Teile gerissen» – so erklärt es ihm sein Arzt.

Heiri Dürsts Frau Manuela befreit an diesem Donnerstag gerade ihr Auto vom Schnee, als der Kommandant der Kantonspolizei Glarus und sein Stellvertreter vorfahren und die schreckliche Nachricht überbringen. Sie bitten sie, nach Zürich zu fahren und Kleider mitzunehmen, möglicherweise werde sie nicht am gleichen Tag heimkehren.

«Lieber mit dem Rollstuhl leben als gar nicht mehr. Eine positive Denkweise hilft immer.»

Heinrich Dürst

Eilends organisiert sie die Betreuung der Kinder durch die Nachbarn. Natürlich befällt sie Angst. In welchem Zustand wird sie Heiri antreffen? Wie bringt sie den schweren Unfall ihren zwei Töchtern und dem Sohn bei? Und was ist, wenn ihr Mann stirbt? Wie sollen sie die Zukunft ohne ihn bewältigen?

Seine Frau weiss: Er schafft das

Auf der Intensivstation liegt er reglos im Bett, begleitet vom Geräusch der Maschinen. Seine Eltern sind da, seine Geschwister; sie bangen. Aber Manuela Dürst hat auf einmal keine Angst mehr. In ihr wächst die Überzeugung: Er schafft das! Sie denkt: «Hauptsache, der Kopf funktioniert. Mit dem Rollstuhl kommen wir klar.»

Sie kämpft, er kämpft. Im Nachhinein wird er sagen: «Wäre mein Lebensweg zu Ende gegangen, hätte ich immerhin 37 tolle Jahre gehabt. Und der Töff zu Hause wäre weitergelaufen.» Bis zum 22. Dezember wird er achtmal operiert. Was mit ihm geschah, bekommt er nicht mit.

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Am 27. Dezember nimmt er sein Umfeld erstmals wieder bewusst wahr. An diesem Tag wird er ans Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil verlegt. Man erklärt ihm, dass er eine Paraplegie mit hohem Lähmungsgrad hat. Trotzdem ist er überzeugt: «In ein paar Wochen bin ich wieder zu Hause. Als Fussgänger.»

Aus den Wochen wird eine rund sechsmonatige Erstrehabilitation in der Spezialklinik. Heiri Dürst muss sich damit abfinden, ständig auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein. Aber er hadert nicht. «Lieber mit dem Rollstuhl leben als gar nicht mehr», sagt er. «Eine positive Denkweise hilft immer.»

Riesige Solidarität im Quartier

Dreimal hat er Tränen in den Augen, als er sich in Nottwil im Rollstuhl sitzend im Spiegel sieht. Aber sie trocknen rasch. Heinrich Dürst findet Ablenkung im Sport und er hat die Gabe, selbst in den trostlosen Momenten noch etwas Positives zu erkennen. So wird das SPZ für ihn zu einem Ort des Aufbruchs. Er schwärmt davon: «Das Gesamtpaket in Nottwil ist einzigartig. Die medizinische Versorgung, die Therapievielfalt, das Pflegepersonal, die Sozialberatung, die Orthotec und alles weitere – die Betreuung spielt in einer ganz eigenen Liga!»

Kraft geben ihm die Besuche der Familie und aus seinem Freundeskreis. In Nottwil fühlt er sich nie einsam. Und in Netstal kümmert sich das ganze Quartier um seine Familie. Die Nachbarn versorgen die Dürsts mit Essen oder legen Süssigkeiten und Geschenke vor die Türe. Und wenn Heiri an den Wochenenden nach Hause darf, organisieren sie jedes Mal einen Apéro. Die Solidarität ist riesig, sie wird von den Lehrpersonen der Kinder und dem Arbeitgeber mitgetragen. Seine Vorgesetzten sichern ihm regelmässig ihre Unterstützung zu.

Heiri Dürst mit seiner Familie und Freunden aus dem Quartier.

Treffen im Quartier: Mit den Nachbarn sind die Dürsts befreundet.

Mit eisernem Willen kehrt Heiri Dürst ins Leben zurück. «Ich durfte bei vollem Bewusstsein lernen, mich auf vier Rädern zurechtzufinden», sagt er. Mitte Juni 2022 verlässt er Nottwil, zwei Monate später startet er in kleinem Pensum als Einsatzleiter in der Notrufzentrale der Kantonspolizei Glarus. Heute arbeitet er fünfzig Prozent, verteilt auf vier Tage. «Für mich war immer klar: Ich möchte zurück zur Polizei», sagt er. Für den Kommandanten gab es keine Zweifel: Für Heiri würde er immer eine Stelle finden.

Aufwühlende Funksprüche

Die Familie zieht temporär in eine Wohnung am andern Ende des Dorfes. Das Haus, das sie 2015 gekauft haben, muss zuerst rollstuhlgerecht umgebaut werden. Sie nehmen die Ausquartierung und die erhebliche finanzielle Last auf sich, weil sie nie aus ihrer Strasse fortziehen würden. Als Glücksfall erweist sich, dass sie dank ihrer Mitgliedschaft bei der Schweizer Paraplegiker-Stiftung 250 000 Franken Gönnerunterstützung erhalten.

Heiri Dürst verarbeitet den Wendepunkt in seinem Leben aktiv. Er will die Situation jenes Dezembers 2021 nachempfinden können. Ein Jahr nach dem Unfall besucht er das Universitätsspital Zürich, den Landeplatz des Rega-Helikopters, den Schockraum, die Station, auf der er betreut wurde. Weil er Akteneinsichtsrecht hat, sieht er bereits während seines Aufenthalts in Nottwil das Video einer Überwachungskamera, die das Unglück festgehalten hat.

Heiri Dürst hat damit keine Mühe, die Bilder lösen keine Emotionen aus. Hingegen wühlen ihn die dramatischen Funksprüche auf, die seine Kollegen am Unfallmorgen absetzen. Er weint, als er ihre Worte hört, weil er sich in ihre Lage versetzt und ahnt, wie schlimm sich das für sie angefühlt haben muss.

«Das Leben fängt erst richtig an»

Der Mann macht den Eindruck, mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Über Schmerzen klagen? «Wenn ich an die Kolleginnen und Kollegen in Nottwil denke, denen es viel schlechter geht als mir, habe ich kein Recht, zu klagen. Deshalb rede Finanzierung von Sportgeräten. ich nicht über Schmerzen.» Mit dem Schicksal hadern? «Sicher nicht. Das Leben ist nicht vorbei, es fängt erst richtig an!» Wut über die fehlbare Autolenkerin, die sich wegen schwerer fahrlässiger Körperverletzung vor Gericht verantworten muss? «Nein. Ich rief sie aus Nottwil an. Wir trafen uns zu einem Kaffee, und ich merkte, wie sehr sie leidet.»

Macht ihm gar nichts zu schaffen? «Doch», antwortet er: «Ich vermisse mein altes Leben.» Als ein Beispiel nennt er die Sexualität: «Im Leben eines Querschnittgelähmten verändert sich vieles und ist nicht mehr, wie es einmal war.» Ausserdem fehlt ihm sein Polizeihund Erock: «Nach dem Unfall musste ich ihn weggeben. Ich könnte ihn noch besuchen, aber das schaffe ich nicht. Es würde mich durchschütteln.»

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Die Kinder sammeln und spenden

Heiri Dürst blendet Negatives aus und zeigt seine Dankbarkeit. Dass er seine Geschichte überhaupt erzählen kann, ist für ihn alles andere als selbstverständlich. Dankbar sind auch die Kinder Enya (14), Jessy (11) und Mats (8), die beschlossen haben, Geld für die Schweizer Paraplegiker-Stiftung zu sammeln. 2023 verkauften sie an einem Flohmarkt in Glarus Spielsachen, nahmen 245 Franken ein und spendeten den Betrag.

Im Mai 2024 wiederholten sie die Aktion. Den Erlös von über 300 Franken gab ihr Vater am Empfang des SPZ ab, als er einen ambulanten Termin in Nottwil hatte. Dem Glarner ist es ein Bedürfnis, andern Betroffenen zu helfen, sie zu motivieren, ihnen Wissen weiterzugeben oder einen Beitrag an neue Erkenntnisse zu leisten. So beteiligt er sich an mehreren Projekten der Schweizer Paraplegiker-Forschung: «Ich habe in Nottwil viel bekommen. Deshalb ist es eine Selbstverständlichkeit, etwas zurückzugeben.»

Heinrich Dürst mit seiner Familie

Heinrich Dürst lebt heute bewusster als früher, er verzichtet auf Alkohol, ernährt sich gesund, treibt viel Sport. Regelmässig stemmt er im Kraftraum Gewichte oder bricht zu Ausfahrten mit dem Handbike auf. Oft zieht es ihn an den Klöntalersee, den er «mein Lieblingsplätzli» nennt: «Wo ist es schöner als da? Nirgends auf der Welt.» Hier tankt er auf, hier hängt er Gedanken nach. Und ist glücklich, dass er die Schönheit der Natur noch geniessen darf.

Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.

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