Der Deal fürs Leben
Ursula Schwaller verunglückt 2002 auf einer Schneeschuhwanderung. Ein Jahr will sie sich Zeit geben, um herauszufinden: Kann ich mit einer Querschnittlähmung leben? Nach wenigen Monaten hat sie die Antwort. Und wie!
Text: Peter Birrer
Bilder: Adrian Baer
Sie hängt am Leben, sie kostet jeden Tag aus und kann es nicht ausstehen, wenn Zeit verschwendet wird, dieses wertvolle Gut. Ursula Schwaller wirkt zwar nicht so, als müsste sie gleich zum nächsten Termin hetzen. Aber was sie tut, möchte sie richtig machen. Sie sagt: «Ich mag keine halben Sachen.» Und: «Manchmal muss ich im Beruf ein Machtwort sprechen, wenn die Diskussionen nicht zielführend sind.» Die 46-jährige Freiburgerin ist Architektin und Mitinhaberin eines Büros in Düdingen, und dieser Beruf passt perfekt: Visionen haben, Projekte umsetzen, Überraschendes planen. Um ihren Alltag zu meistern, benötigt sie Entschlossenheit, Überzeugung, Flexibilität, Improvisationsvermögen. Und gedanklich legt sie sich oft einen Plan B zurecht, sie möchte bremsen können, bevor sie in eine Sackgasse gerät.
Die Fähigkeit, rasch umzudenken und sich anzupassen, hat sie in den Bergen gelernt. «Du musst dir bewusst sein: Es kann immer etwas geschehen», sagt sie.
Als Au-Pair in Schweden
Ursula Schwaller ist ein Naturkind, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Heitiwil, einem Weiler ausserhalb Düdingens. Als Primarschülerin verschlingt sie Bücher mit Geschichten von Pippi Langstrumpf und Michel von Lönneberga, und in ihr reift das Verlangen, nach Schweden zu reisen. Nach der Matura bewirbt sie sich als Au-Pair in Stockholm. Als sie im Flugzeug sitzt, beschleicht sie ein mulmiges Gefühl, auch deshalb, weil sie nicht weiss, was auf sie zukommt. Ihre Mutter hätte sie lieber in Frankreich oder England gesehen – Schweden ist keine alltägliche Destination für einen längeren Aufenthalt in der Fremde.
Aber Ursula Schwaller zieht ihren Plan konsequent durch. Sie spricht bald Schwedisch, findet sich fern der Heimat schnell zurecht und wird für vier Kinder eine Ersatzmutter. Die junge Frau kehrt mit gestärkter Persönlichkeit in die Schweiz zurück, studiert in Freiburg Architektur und erhält 2001 ihre erste Stelle. Wenn sie frei hat, bricht sie mit ihrem Freund Marcel Kaderli oft zu Wanderungen auf.
Am 8. Dezember 2002 unternimmt das Paar eine Schneeschuhwanderung. Beim Abstieg wählt Ursula Schwaller eine Abkürzung. Sie verliert den Halt, rutscht den steilen Hang hinunter und stürzt acht Meter tief in ein Bachbett. Im Wasser liegend denkt sie: «Das wars.»
Die Beine wie ein Fremdkörper
Sie hat fürchterliche Schmerzen und kann kaum atmen, eine der fünf gebrochenen Rippen hat sich in einen Lungenflügel gebohrt. Als Marcel Kaderli am Unfallort eintrifft, ist Ursula Schwaller stark unterkühlt. Sie realisiert sofort, dass sie gelähmt ist. Die Beine fühlen sich an wie ein Fremdkörper, «fast eklig», sagt sie. In diesen Minuten redet sie mit Marcel Kaderli über eine Zukunft im Rollstuhl: «Geht das überhaupt?»
Die Rettung ist kompliziert, weil der Nebel die Landung des Rega-Helikopters erschwert. Minuten kommen ihr vor wie eine Ewigkeit, ihr Zustand ist so schlecht, dass ihr immer wieder durch den Kopf schiesst: «Lasst mich sterben.» Bis starke Medikamente wenigstens etwas Linderung bringen. Noch vor der ersten Operation steht für sie fest: Sie braucht einen Notausgang, eine offene Fluchttüre. Ein Jahr will sie sich Zeit geben, sagt sie der Ärztin und ihrem Partner, «danach darf ich entscheiden, wie es weitergeht». Die Zusicherung, selbst über ihr Leben bestimmen zu können, gibt ihr Kraft und eröffnet eine Perspektive. Es wird der Deal fürs Leben.
Wie unter einem Felsbrocken
Nach der Verlegung ans Schweizer Paraplegiker-Zentrum kämpft sie auf der Intensivstation. Mit gebrochenem Arm und wegen der verletzten Lunge ohne Stimme kritzelt sie ihre Botschaften auf einen Notizblock: «Ist das wirklich sicher mit dem Rollstuhl?» «Wie gehts den Eltern?» «Kann ich bei meiner Firma bleiben?» Regungslos starrt sie an die Decke, und leidet besonders, wenn sie husten müsste, aber es nicht schafft. Das Pflegepersonal hilft nach, drückt stark auf den Brustkorb, um den Schleim zu lösen. Für Schwaller fühlt sich das an, als werde sie von einem Felsbrocken erdrückt. Aber sie rappelt sich hoch. Kleine Fortschritte erzielen grosse Wirkung, heben die Moral. Details gewinnen an Bedeutung. Ein schöner Sonnenaufgang, ein Wintertag mit viel Schnee – sie spenden Energie. Die Zweifel, wieder als Architektin arbeiten zu können, verfliegen. Sie will sich durch den Unfall nicht zwingen lassen, alles Aufgebaute umkrempeln zu müssen. Und sie merkt: Ich kann sehr viel aushalten.
Die Erstrehabilitation dauert lange, aber es tut sich viel in diesen Monaten. Ursula Schwaller absolviert eine Weiterbildung, und sie lernt, wie sie sich künftig bewegen und körperlich an die Limiten gehen kann. Noch auf der Intensivstation bringt ihr Partner ein Foto mit einem Handbike mit. Der Sport ist ein weiteres Argument, um zur Erkenntnis zu gelangen: Ich breche nach einem Jahr ganz bestimmt nicht ab. Es lohnt sich, die Herausforderung anzunehmen.
Sie gewinnt sieben WM-Titel
Ursula Schwaller möchte mit dem Velo «tüürele», so nennt sie das, zwanglos unterwegs sein, ohne gegen Konkurrenz anzutreten. Aber sie hat Talent, und ihre Fähigkeiten werden gefördert. Aus der Hobbysportlerin wird eine Spitzenathletin, die sieben Mal Weltmeisterin wird und an den Paralympics 2012 in London zwei Bronzemedaillen gewinnt. Rund 80 000 Franken investiert sie pro Saison in den Sport, das schafft sie dank Sponsoren. Ihren Lohn verdient Ursula Schwaller als Architektin.
So kompliziert das Zeitmanagement auch ist: Sie bringt es fertig, Sport und Beruf zu verbinden. Einen Beruf, der ihr so viel bedeutet und in dem sie vehement gegen Stigmata ankämpfen muss. «Ich bin eine Frau. Und ich habe eine Behinderung», sagt sie. Wiederholt fragt sie sich: Werde ich bei Konflikten ernst genommen – als Frau, die im Rollstuhl sitzt?
Aber sie weiss sich gegen abschätzige Bemerkungen zu wehren. So zuvorkommend sie ist, so gelassen sie wirkt, so impulsiv kann sie werden, wenn sie Ungerechtigkeit empfindet. «Dann chlöpfts halt mal», sagt sie.
Unangenehm wird Ursula Schwaller etwa, wenn bei einem Bauprojekt die Barrierefreiheit vernachlässigt wird. Oder wenn jemand sein Auto unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz abstellt. Sie hat schon zu hören bekommen: «Dauert ja nur fünf Minuten.» Oder: «Wer bezahlt mehr Steuern? Du oder ich?» Sie erkennt darin ein weiteres Stigma: «Menschen im Rollstuhl werden oft als Schmarotzer betrachtet.» Dazu passte auch ihr beharrlicher Kampf mit Inclusion Handicap gegen die SBB, als diese behaupteten, die berechtigten Ansprüche der Menschen mit einer Behinderung würden die Auslieferung des neuen Doppelstockzugs verzögern.
«Ich muss ein Stück besser sein»
Sie definiert sich über Leistung und stellt hohe Ansprüche. Als Architektin im Rollstuhl muss sie um Akzeptanz ringen, ist sie überzeugt. «Ich muss ein Stück besser sein als die Konkurrenz», sagt sie. Wenn es um die Beurteilung der Arbeit geht, darf die Beeinträchtigung kein Faktor sein.
Einen Namen macht sie sich auf dem Gebiet des energieeffizienten Bauens. 2006 ermuntert sie Marcel Kaderli, in Düdingen ein eigenes Niedrigenergiehaus zu bauen. Es wird ein Vorzeigeobjekt und bildet ihren Stil ab. Damit folgt sie keinem Trend, sondern bleibt ihrer Einstellung treu. Energie sparen, das war schon in der Kindheit auf dem Bauernhof stets ein Thema. Nun legt sie grössten Wert auf Ökologie beim Bauen, wovon auch die Ökonomie profitiert – insbesondere die Nebenkosten. «Wenn die Energiepreise steigen, wirkt sich das nicht gross auf meine Rechnungen aus», sagt sie.
Seit dreissig Jahren ist Marcel Kaderli an ihrer Seite. Er bedeutet für sie «Heimat», gibt ihr Schutz. Sie eroberte als Teenager sein Herz, als sie eine Reifenpanne an ihrem Velo vorgaukelte, an seiner Tür klingelte und um Hilfe bat. Marcel wurde ihr Freund und später ihr Trainer. Für das Paar hat der Sport nach Beendigung der aktiven Karriere 2012 einen hohen Stellenwert behalten. 2016 fuhren sie mit dem Bike von Trondheim nach Oslo, 550 Kilometer nonstop in 24:44 Stunden. Und zwei Jahre arbeiten die beiden beim schwellenfreien «Swiss Bike Park» in Oberried BE mit.
Der ungebetene Gast bleibt
Ursula Schwaller legt pro Jahr 10 000 Kilometer mit dem Bike zurück und absolviert auch weite Strecken auf der Langlaufloipe. Sie verschiebt Grenzen und beeindruckt Marcel Kaderli immer wieder von Neuem. «Sie hat neben einer sensiblen Seite vor allem einen wahnsinnig starken Charakter», sagt er. Sie fordert nie eine Extrawurst, nur etwas wünscht sie sich zwischendurch – den ungebetenen Gast namens Querschnittlähmung einmal in die Ferien zu schicken und eine Pause zu bekommen.
Sie lächelt, als sie davon erzählt. Ihr ganzes System ist fragiler geworden, das ist ihr bewusst. Umso wertvoller ist jede Form von Unabhängigkeit. Und umso schwieriger ist es, Rückschläge zu verkraften, die es immer wieder gibt. 2019 etwa fährt ihr beim Training mit dem Handbike in einem Kreisel ein Auto über die Beine und verletzt sie schwer. Sechs Operationen werden notwendig. Selbst in solchen Momenten kann sie mit Mitleid nichts anfangen. Aber eines sagt sie sich doch: «Langsam reicht es.»
Das Herzensprojekt in Nottwil
Ursula Schwaller erwartet von sich, Gas zu geben, wenn sich die Möglichkeit bietet. Als Architektin macht sie das mit einem Grossprojekt in Schwarzsee FR. Mit baulichen Massnahmen soll das Schlechtwetterangebot ausgebaut und der Tourismus angekurbelt werden. Die Chefin hat den Lead übernommen und die Hoffnung, dass ab 2025 das Konzept umgesetzt wird. Und da ist noch eine Herzensangelegenheit, die sie zurück nach Nottwil bringt und über die sie sagt: «Es darf nicht schiefgehen.» Schwaller hat die neue Kinderkrippe «Paradiesli» konzipiert, deren Eröffnung für Mai 2023 vorgesehen ist (vgl. «Paraplegie» 4/2020).
Zwanzig Jahre sind seit der verhängnisvollen Schneeschuhwanderung vergangen. Die Bilder von damals sind ebenso gespeichert wie die Gefühle. Und diese Abmachung der Jahresfrist, die sie «Deal» nennt und die für sie im Nachhinein von immenser Bedeutung war. Seit sie sich fürs Leben entschieden hat, klammert sie sich erst recht an ihr Motto: «Kostbar sind die Gelegenheiten, und die Zeit ist ein scharfes Schwert.» Ursula Schwaller will bloss nichts vergeuden. Sondern den Moment geniessen. Und dankbar sein für das, was sie hat und kann.
So hilft Ihr Mitgliederbeitrag
Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung finanzierte Ursula Schwaller nach dem Unfall ihr erstes Auto und unterstützte sie bei der Anschaffung von verschiedenen Sportgeräten.
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