Mathias Studer

Er bestimmt den Takt wieder selbst

Eine Rempelei unter Kollegen machte aus Mathias Studer einen Tetraplegiker. Der 41-Jährige wähnte sich am Abgrund. Er nahm den Kampf aber an und hat die Kontrolle über seine Agenda zurückgewonnen.

Text: Peter Birrer
Fotos: Adrian Baer

Kurz vor der Abreise ins Berner Oberland befindet sich Mathias Studer in einem Stimmungshoch. Sein Chef hat ihm erfreuliche Perspektiven aufgezeigt, der nächste Karriereschritt steht bevor, und auch sonst geht es ihm blendend. Er ist dreissig, Buchhalter, 1,90m gross, Single, unbeschwert. Ein Leben auf der Überholspur. Wieso sollte er das Tempo drosseln?

Mathias Studer sitzt an einem wunderbaren Sommertag am Gartentisch vor seinem Haus in Schönenwerd SO – im Rollstuhl. Und sagt: «Ich habe es gut, trotz allem.» Zum Drosseln seines Tempos zwang ihn ein Unglück in der Nacht auf den 24. Juli 2012.

Die verhängnisvolle Schubserei

Als Bub schon liebt er es, mit einem Weidling auf der Aare zu fahren. Er bestreitet Wettkämpfe, ist treues Mitglied des Pontonierfahrvereins und ein verlässlicher Helfer. Anpacken ist für ihn Ehrensache, auch im Lager der Jungpontoniere, das unweit von Spiez stattfindet.

Studer hilft, die Kinder zu versorgen, kümmert sich um Einkäufe und hat als «Finänzler» die Kasse im Griff. Den Abend des 23. Juli verbringt er mit Kollegen aus dem Leitungsteam im Lagerkafi. Nach Mitternacht macht sich ein Trio auf den kurzen Heimweg zu seinen Zelten.

Sie machen Witze und schubsen sich in der Dunkelheit. Mathias Studer stolpert dabei in eine Hecke, in der sich ein gespannter Draht verbirgt. Er stürzt darüber, prallt auf den einen Meter tiefer liegenden Boden und hört das Lachen seiner Kollegen. «Komm, steh auf!», rufen sie.

«Ich habe Angst!»

Aber Mathias Studer kann sich nicht mehr bewegen und ahnt, dass er gelähmt ist. Querschnittlähmung, Paraplegie, Tetraplegie – das sind für ihn keine fremden Begriffe. Er hat Panik. Quälende Fragen schiessen durch den Kopf: Ist alles vorbei? Was passiert mit mir? Er ruft immer wieder: «Ich habe Angst!»

Die Kollegen handeln zügig. Die Rega fliegt Mathias Studer ins Berner Inselspital. Vor der Operation fragt er die Ärzte: «Bleibt das so?» Die Antwort: «Wahrscheinlich schon.» Einen Tag später wird er nach Nottwil verlegt.

Die ersten Stunden auf der Intensivstation sind für den Tetraplegiker «der Horror», wie er sagt. Er ist wach, sein Kopf funktioniert, aber sonst: nichts. Auf einmal ist er hilflos und abhängig, fühlt sich am Abgrund.

Mathias Studer schaut auf den See hinaus

Die Energie kanalisieren

Mathias Studer muss sich etwas aneignen, das er bisher nicht kannte: Geduld. Einmal beklagt er sich bei einer Physiotherapeutin, dass sich sein Zustand nicht schnell genug verbessert. Sie sagt: «Konzentriere dich auf einen Bereich. Du kannst nicht auf allen Ebenen schnelle Fortschritte erzielen.» Er lernt, seine Energie zu kanalisieren.

Nach und nach ruft er seine Freunde an, erzählt, was passiert ist. Zu den engsten Vertrauten gehört Andreas Wagner, der gerade im WK steckt und sich über die Luzerner Festnetznummer wundert. Mathias Studer will hören, wie es im Militär läuft. Dann fragt der Freund, woher er eigentlich anrufe – und ist schockiert. Er fährt sofort nach Nottwil und gibt ihm das Essen ein. «Das fuhr mir damals ein», erinnert sich Andreas Wagner. «Und es ist heute noch ein spezielles Gefühl, wenn ich daran denke.»

Verschiedene Lichtblicke in Nottwil prägen Mathias Studers Einstellung in dieser von Verlustängsten geprägten Phase. Ein Ergotherapeut erzählt ihm, dass Menschen mit einer Tetraplegie auch Auto fahren können. Es ist ein Strohhalm mehr, an den er sich klammert.

Tränen fliessen wie auf Knopfdruck

Oder die Physiotherapeutin, die eine Blockade löst. Mathias Studer meinte, stets stark sein zu müssen. Sie fragt: «Hast du seit dem Unfall schon einmal geheult?» – «Nein.» – «Dann mach das jetzt.» Wie auf Knopfdruck fliessen die Tränen, das tut gut. Diese Emotionen wird er künftig nicht mehr unterdrücken.

Die Befürchtung, ein Pflegefall zu werden, weckt Kräfte, Auswege zu suchen. Mathias Studer informiert sich. Bei Menschen auf der Station, beim Pflegepersonal, in den Therapien. Er will wissen, wie er möglichst viel Selbstständigkeit zurückgewinnen kann. Ein Tetraplegiker erzählt ihm von Ferien in Australien. In seiner Verfassung hält er das für eine Utopie und will nichts von den «coolen Erlebnissen» hören. Aber mit etwas Abstand realisiert er: «Diese Person hat mir aufgezeigt, dass ein Tetraplegiker durchaus Chancen hat. Man muss sie einfach sehen.»

Auch körperlich wird immer mehr möglich. Als er wieder selbstständig essen kann, erhält er ein Stück Lebensqualität zurück: «Es war ein schlimmes Gefühl, gefüttert zu werden. Essen ist für mich etwas Soziales, ein Genuss.»

«Es war ein schlimmes Gefühl, gefüttert zu werden. Essen ist für mich etwas Soziales, ein Genuss.»

Mathias Studer

Sein Rückenmark erholt sich teilweise, vereinzelte Funktionen kehren zurück. Aus dem kompletten wird ein inkompletter Tetraplegiker, der sein neues Leben in die Hand nimmt und kein Mitleid will. Er tröstet vielmehr die anderen. Zum Beispiel die Eltern, die an seinem Schicksal erheblich leiden. Für Mathias Studer ist zentral, dass er die Kontrolle hat und selber bestimmt, wie er seine Tage ausfüllt.

Nur keine Extrawürste

Nach neun Monaten in Nottwil bezieht er die rollstuhlgängig ausgebaute Wohnung in Niedergösgen, die er während der Reha anhand von Bauplänen kaufte. Er kehrt zurück an seinen alten Arbeitsplatz bei der login Berufsbildung AG in Olten. Die Zusicherung des Vorgesetzten schon kurz nach dem Unfall, dass die Türen für ihn offen bleiben, beruhigte ihn während der Rehabilitation. Heute bewältigt er ein Pensum von vierzig Prozent und sagt: «Ich habe einen goldenen Arbeitgeber, der mich toll unterstützt.»

Bei den Pontonieren von Schönenwerd-Gösgen bleibt er Kassier. Mit Freunden trifft er sich zum Jassen, er ist in einem privaten Kochclub aktiv, besucht Konzerte und hat Spass an Quizabenden in einem Pub. «Vorher hatte ich mehr Optionen», sagt er, «jetzt habe ich ein anderes, aber ebenfalls cooles Leben.»

Jasskarten
Mathias Studer mit seinen Freunden an einem Tisch am jassen

2016 lernt Mathias Studer im Internet eine Frau kennen. Nach einer Weile schreibt er ihr von seinem Unfall und den Konsequenzen. Claudia, eine Pflegefachfrau aus dem Baselbiet, erschrickt. Aber das hält sie nicht davon ab, in ein Treffen einzuwilligen, weil sie diesen Mann spannend findet. Beim ersten Date in Olten müssen sie eine Steigung überwinden. Sie reden intensiv weiter, und erst oben fragt sie: «Hätte ich dir helfen sollen?» – «Nein, wenn ich Unterstützung benötige, mache ich mich bemerkbar», sagt er. «Extrawürste sind nicht mein Ding.»

Er heiratet und wird Vater

Aus der Bekanntschaft entsteht Liebe. 2019 zieht das Paar in ein neues Haus in Schönenwerd. Im August 2020 heiraten sie, im Oktober 2022 werden sie Eltern von Louis. Jetzt sind sie zu viert, denn auch Janik, Claudias Sohn aus einer früheren Beziehung, gehört zur Familie.

Für Claudia blieb der Rollstuhl stets im Hintergrund. Für sie zählt der Mann, den sie als «motivierend und positiv» beschreibt, als kreativ, lösungsorientiert, gesellig und unternehmungslustig: «Er lässt sich seine gute Laune nicht so schnell verderben. Mathias ist ein Geniesser.»

Der Tetraplegiker hegt keinen Groll gegenüber seinem Kumpel, der ihn im Berner Oberland in die Hecke stiess. «Es ist einfach dumm gelaufen», sagt er. Mit dem Freund von damals hat er weiterhin Kontakt, er wohnt in der Nachbarschaft. Für sein Umfeld ist Mathias Studer mit seiner positiven Ausstrahlung ein Mutmacher, was er mit einem typischen Spruch kommentiert: «Ich bin psychisch zu wenig stark, um jeden Tag schlecht drauf zu sein.»

«Ich habe es gut, trotz allem.»

Mathias Studer

Trotzdem gibt es Momente, in denen es ihm nicht gut geht, das will er nicht schönreden. «Probleme beim Darmmanagement oder Harnwegsinfekte können sehr belastend sein», sagt er. «Auch die Hitze ist für mich schwer erträglich. Es ist definitiv nicht immer lustig.» Weil er in den Händen kein Gespür hat, muss er alles zuerst mit den Augen erfassen. Ihm fehlt die Kraft, um den kleinen Louis hochzuheben. Und insbesondere in der kalten Jahreszeit verhindert eine Beugespastik, den linken Arm zu strecken.

«Mein Wille ist stark»

Zwischendurch befällt ihn Wehmut auf die Zeit vor dem Unfall. An schönen Wintertagen zum Beispiel, die er gerne auf den Ski verbracht hat. Oder am 6. Dezember, als er jeweils als Samichlaus unterwegs war. Daran ist nicht mehr zu denken: «Ein Samichlaus im Rollstuhl – das passt für mich nicht.»

Aber da bleibt dieser Ehrgeiz, der ihn immer wieder aus einer Baisse zieht und antreibt: «Mein Wille ist stark – und ich habe keine Mühe mit dem Rollstuhl.» Dass für ihn vieles mit grosser Anstrengung und enormem Zeitaufwand verbunden ist, spielt keine Rolle. Manchmal benötigt er bis zu drei Stunden am Morgen, um für den Tag bereit zu sein. Und gelegentlich «rumpelt» es, wenn er etwas in die Hände nimmt. Tut nichts zur Sache, solange er keine fremde Hilfe benötigt.

Das gilt auch beim Kleiderkaufen. Einmal begleitete ihn sein Freund Andreas Wagner, half ihm aber bewusst nicht bei der Anprobe. Er merkte, wie Fremde ihn verdutzt anschauten und wohl dachten: Was ist das für ein asozialer Typ! Doch Wagner weiss: «Mathias ist auch dank seiner Beharrlichkeit selbstständig geworden. Ich bin stolz auf ihn.»

Mathias Studer mit seiner Familie

Der Trick beim Wocheneinkauf

Im Haushalt hilft Mathias Studer mit, wo es seine Möglichkeiten zulassen. Grillieren – etwa im Smoker – ist eines seiner Hobbys. Den Wocheneinkauf meistert er auf seine eigene Weise. Weil er dazu keinen Einkaufswagen benutzen kann, füllt er einen Einkaufskorb, fährt damit zur Kasse und via Auto wieder zurück in den Laden. «Das hat den Vorteil, dass ich mehrmals einen kurzen Schwatz mit der Kassierin halten kann», sagt er. «Wir schmunzeln darüber.»

Wenn die Jungpontoniere heute ins Sommerlager reisen, besucht sie Mathias Studer, ohne sentimental zu werden. Die Unfallstelle löst so wenig aus wie der 24. Juli – er will dem Datum keine spezielle Bedeutung geben. Pech sei es gewesen. Das Leben hat eine Wendung genommen. Und jetzt hat er es gut. Trotz allem.

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