«Ich bin immer noch ein richtiger Lausbub»
Bei einem Sturz im Jungwachtlager bohrte sich ein Aststück in Andrin Deschwandens Hals – seither ist der 14-Jährige Tetraplegiker.
Jede freie Minute verbringt Andrin Deschwanden mit seinen dicksten Kumpeln in einem geheimnisvollen «Rüümli». Sie und seine Familie sind der grosse Rückhalt für den 14-Jährigen, der vor zwei Jahren während eines Jungwachtlagers verunfallte und zum Tetraplegiker wurde. Von Trübsal blasen will er nichts wissen. Der selbst ernannte Lausbub steckt voller Energie und Pläne.
Text: Robert Bossart
Bilder: Beatrice Felder
Ruhig sitzen gehört nicht zu seinen Stärken. Andrin balanciert mit seinem Rollstuhl gekonnt auf zwei Rädern. Plötzlich saust er durch den Gang der Wohnung in Horw (LU), um sein Handy zu holen. «Über 100 Likes habe ich auf diesen Post erhalten», erzählt er stolz. Das Facebook-Foto zeigt ihn während der Parathletics im Mai in Nottwil, wie er mit vollem Einsatz mit dem Rennrollstuhl die Ziellinie überquert. Auf die Frage, was ihm am meisten Spass macht im Leben, kommt die Antwort wie aus der Kanone geschossen. Möglichst viel Zeit mit seinen Freunden verbringen und Sport treiben. Drei bis viermal die Woche trainiert der Luzerner auf der Leichtathletik-Rennbahn beim Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Seine Mutter, Judith Deschwanden, schmunzelt. «Er war nie einer, der untätig sein konnte, Andrin war und ist ein Powerbub.»
«Bessere Kumpels als vorher»
Und eben – seine Freunde, die ihm so viel bedeuten. Freitags treffen sie sich jeweils in einem geheimen Raum eines alten Holzhauses, meistens sind sie zu viert, manchmal auch mehr. Erwachsene haben keinen Zutritt. «Im ‹Rüümli› können wir machen, was wir wollen», sagt Andrin. Gamen, reden, Musik hören, sich mit Mädchen treffen. Was Jungs halt so tun, wenn sie ungestört sind.
Verhängnisvolles Dickicht
Dass Andrin im Rollstuhl unterwegs ist, tut der innigen Freundschaft keinen Abbruch. «Wir sind fast die besseren Kumpels als vorher», meint Lars, der seinen Kollegen verschmitzt anschaut. «Das Ganze hat uns zusammengeschweisst.» Er war mit dabei, vor zwei Jahren im Jungwachtlager. Andrin trug im Wald zusammen mit einem Leiter einen kleinen Baumstamm auf der Schulter, den sie für den Bau eines Vorzeltes verwenden wollten. Im Dickicht übersah der damals 12-Jährige eine Mulde – er rutschte aus und stürzte unglücklich auf den Baum. Ein kleines Aststück hatte sich in seinen Hals gebohrt. «Dadurch wurde der Rückenmarkskanal verletzt», erklärt seine Mutter. «Zudem hat sich der Hals überdehnt, was zu einer Schwellung führte. Die Nerven wurden abgedrückt und gequetscht.» Zum Glück waren sie nur teilweise durchtrennt, deshalb spricht man von einer inkompletten Tetraplegie.
«Wenigstens haben wir ihn noch»
Andrin wurde zuerst im Kinderspital Zürich, danach in der Universitätsklinik Balgrist behandelt. Drei Wochen nach dem Unfall kam er zur Rehabilitation ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum nach Nottwil. «Das war das Beste, was uns passieren konnte», sagt Judith Deschwanden. Sie und ihr Mann Paul besuchten ihn jeden Tag. «Anfangs ging es ihm himmeltraurig», erzählt die 52-jährige Mutter. Auch für sie war es eine harte Zeit. «Ich drehte manchmal fast durch.» Sie sah die Angst im Gesicht ihres Sohnes und kämpfte mit der eigenen Verzweiflung. «Immer, wenn ich weinen musste, ging ich nach draussen, damit er mich nicht so sieht.» Und diesen Satz haben die Eltern immer wieder zueinander gesagt: «Wenigstens haben wir ihn noch.»
Familie und Mitpatient als Rückhalt
Während der Rehabilitation spielte die Familie für Andrin eine zentrale Rolle, sie gab ihm Rückhalt. «Ich habe es immer positiv genommen. Und als Roberto auftauchte, ging es mir gleich viel besser.» Roberto, ein junger Mann, war ein Mitpatient. «Seine Wirbelsäulenverletzung war viel gravierender als meine, entsprechend ging es ihm eigentlich viel schlechter als mir». Mit seiner fröhlichen Art vermochte er es, Andrin auf positive Art zu beeinflussen. «Roberto hat mich stets aufgeheitert.» Richtige Lausbubenstreiche hätten die beiden gespielt, meint Paul Deschwanden. Andrin strahlt übers ganze Gesicht. «Manchmal schlichen wir uns spät abends auf die Leichtathletik-Bahn und fuhren wilde Rennen.»
Beweglichkeit zurückgewonnen
Ab und zu übertrieb es Andrin auch mit der Missachtung der Hausordnung. «Wir mussten ihm an einer Wand im Zimmer sämtliche Regeln detailliert aufschreiben», erinnert sich sein 61-jähriger Vater. Die Pubertät machte sich bemerkbar, zudem ist Andrin einer, der schon von klein auf einen ziemlich harten Kopf hatte. Eine Eigenschaft, die ihm auf dem Weg zurück in ein selbstständiges Leben geholfen hat: War er anfangs noch mit Elektrorollstuhl unterwegs, konnte er bald schon in einen herkömmlichen Rollstuhl wechseln. Auf Grund der inkompletten Lähmung schaffte er es mit Hilfe der Ergo- und Physiotherapie, verschiedene Muskeln zu reaktivieren. Heute kann Andrin seine Hände und Arme wieder bewegen. Als er nach rund vier Monaten seinen Eltern sogar einige zaghafte Schritte vorführen konnte, brachen diese in Tränen aus. Wird Andrin wieder gehen können? «Es wird sicher nie mehr so sein wie früher», sagt Judith Deschwanden, und ihr Sohn fügt an: «So, wie es jetzt ist, reicht es. Damit bin ich zufrieden.»
Im Paraplegiker-Zentrum Selbstvertrauen getankt
Zuversichtlich ist er auch, wenn es um seine Zukunft geht. Zeichner Fachrichtung Ingenieur, Elektroplaner oder Architekt sind seine Wunschberufe. Um eines dieser Ziele erreichen zu können, braucht der 14-Jährige einen einigermassen guten Schulabschluss. «Da hat der Unfall sogar eine positive Wirkung gehabt», sagt Judith Deschwanden. Andrins Schulkarriere war vor dem Unfall von Schwierigkeiten geprägt. «Schule war einfach nie mein Ding», meint er. Heute sieht er das Ganze etwas anders. Die Zeit in Nottwil spielte dabei eine massgebende Rolle. Andrin war der erste Jugendliche, der während der Rehabilitation in der Klinik im Rahmen der offiziellen Patientenschule ParaSchool Schulunterricht erhielt. Das ermöglichte es ihm, den Anschluss an den obligatorischen Schulstoff nicht zu verlieren. «Es war fantastisch, er hat sehr viel gelernt», sagt sein Vater. Seine Einstellung zur Schule und zum Lernen habe sich verändert. «Er hat in Nottwil viel Selbstvertrauen tanken können».
Andrins Motto: Gas geben
Heute möchte Andrin vor allem eins: Gas geben. Bei allem, was er tut und anpackt. So wollte er zum Beispiel das motorisierte Zuggerät – den Swiss-Trac –, mit dem er jeden Morgen zur Schule fährt, frisieren. «Der fährt nur 6 km/h, das ist viel zu langsam.» Seine Eltern haben ihm dieses Unterfangen zum Glück ausreden können. Inzwischen hört er – mit einigen Ausnahmen – auf sie. Das, was die Familie erlebte, hat sie alle näher zusammengebracht. Judith Deschwanden gibt zu, dass sie in der ersten Zeit nach Andrins Heimkehr ziemlich ausgebrannt war. «Ich hatte gegenüber seiner Schwester Anuschka ein schlechtes Gewissen, weil sie fast jeden Abend allein zu Hause war.» Die 23-Jährige nickt. Aber das Ganze habe auch positive Seiten, meint sie. «Vor dem Unfall hat er mich oft genervt. Heute haben wir es viel besser, er ist reifer geworden.»
Lausbub durch und durch
Die Familie ist wegen Andrin in eine Wohnung mit Lift umgezogen. Da sie Mitglied der Gönner-Vereinigung sind, hat er die ihm zustehende Gönnerunterstützung erhalten. Davon und vom Angebot der Direkthilfe durch die Schweizer Paraplegiker-Stiftung hat er noch kaum Gebrauch machen müssen. «Später, wenn ich einmal selbstständig lebe, werde ich aber froh sein um die Hilfe», sagt er. Bei den Deschwandens ist die Freude am Leben zurückgekehrt. Es wird wieder viel gelacht – vor allem wegen Andrin. Wenn er nach der Schule nach Hause kommt, schnappt er sich meist seinen Vater, um mit ihm zu raufen. Der 14-Jährige hält alle auf Trab. «Ich bin halt immer noch ein richtiger Lausbub.»
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