«Ich habe mich fürs Leben entschieden»
Jeweils am 1. Mai feiert Simon Hitzinger seinen «Wiedergeburtstag». Denn seit diesem Tag ist der Basler querschnittgelähmt – und feiert sein zweites Leben.
Jeweils am 1. Mai feiert Simon Hitzinger seinen «Wiedergeburtstag». Im Jahr 2011 nahm der damals 17-Jährige an der letzten Party im alten Basler Kinderspital teil. Dort stürzte er vom Balkon zwölf Meter in die Tiefe. Seither ist er von der Brust an abwärts gelähmt. Warum feiert Simon jährlich seinen Unfall?
Text: Tamara Reinhard
Bilder: Simon Hitzinger / Lucian Hunziker
10.00 Uhr an einem sonnigen Apriltag am Bahnhofskiosk Luzern. Ich halte Ausschau nach einem tendenziell bunt gekleideten jungen Mann. «Hey Tschau», begrüsst mich Simon Hitzinger keck, «nenn mich Hitzi.» Wir begeben uns zur Seepromenade beim KKL. Auf dem Weg dorthin hängt Hitzi mit dem Rollstuhl an. «Randsteine sind generell der Tod», scherzt er als er seine Fussstütze wieder einklickt.
Ein kühler Wind weht, während wir einen Kaffee trinken. Trotzdem lehnt sich Hitzi in seinem pinkfarben Rollstuhl zurück. Ich spreche ihn auf seinen Fernsehbeitrag Sexualität bei Querschnittgelähmten an. Warum beantwortet er sehr persönliche Fragen so offen? «Fussgänger haben noch viele Berührungsängste. Ich will Barrieren abbauen.» Er trinkt von seinem Cappuccino und lacht mich an: «Jeder könnte darüber sprechen, aber wenn es niemand tut, mach ich das halt.»
Der Unfall als Wiedergeburtstag
Feiert Hitzi wirklich jedes Jahr den Tag an dem er verunfallte? «Ja. Traditionellerweise mit einem Grillfest.» Am 1. Mai 2011 war Simon auch am Feiern. Die letzte Party vor dem Abriss des alten Basler Kinderspitals ist noch in vollem Gange, als sie abrupt beendet wird. Ein 17-Jähriger sei vom Balkon gestürzt.
Minuten zuvor sitzt Simon auf dem Balkongeländer des 2. Stocks. Dabei lehnt er sich gegen ein Banner. Doch dieser riss und Simon verliert das Gleichgewicht. Er stürzt 12 Meter in die Tiefe und prallt auf den steinernen Boden. Dabei brechen fünf Rückenwirbel, einer davon zersplittert. «Ein Knochensplitter drückte sich ins Rückenmark, der mich zum Querschnittgelähmten machte.»
Simon wird mit einer Hirnblutung unverzüglich ins Unispital Basel eingeliefert. Die Ärzte kämpfen um sein Leben. Mit zwei Eisenstangen stabilisieren sie den Rücken. Den zersplitterten Rückenwirbel stellen die Ärzte mit Knochen aus seiner Hüfte wieder her. Nach dieser sechsstündigen Operation befindet sich Simon im kritischen Zustand.
Es war unklar, inwieweit seine Hirnblutung ihm geschadet hat. Zusätzlich schwächt ihn eine Lungenentzündung. Angesichts der Tatsache, dass Simon entweder stirbt oder überlebt, aber allenfalls nicht mehr weiss wer er ist, erschien die Diagnose «querschnittgelähmt» als die weniger ‚schlimme‘.
Doch Simon erwacht und erkennt seine Familie und Freunde wieder. Er wird in das Rehab Basel auf die Überwachungsstation verlegt. Alle waren einfach nur froh, dass Hitzi noch lebt, egal ob mit oder ohne Querschnittlähmung. «Darum, ich feiere den Tag meines Unfalls, weil ich noch lebe.»
Die Lähmung nicht spürbar
Wusste Hitzi auf Anhieb, dass er nun querschnittgelähmt ist? «Nein. Ich habe nicht realisiert, dass ich meine Beine nicht mehr spüre.» Aufgrund der Dosis an Schmerzmitteln, kann Simon keine klaren Gedanken fassen und besitzt keine Kontrolle über seine Muskeln. Zudem leidet er noch für zwei Monate an den Auswirkungen der Lungenentzündung.
Am Nullpunkt angekommen
Allmählich kann Simon wieder klar denken. Doch er ist den ganzen Tag auf die Hilfe der Betreuer angewiesen. Diese müssen ihm die Kleider anziehen. Essen kann er nicht mehr selbstständig. «Eigentlich konnte ich nichts mehr alleine tun.» Auf die Toilette oder ins Bad zu gehen wird zum Unterfangen, weil er es nicht alleine meistern kann. Simon fühlt sich den Betreuern ausgeliefert. «Ich war am Nullpunkt und wusste nicht, wie ich da rauskomme.»
Die Entscheidung fürs Leben
Eine Zeit lang war sich Simon nicht sicher, ob er überhaupt noch leben möchte. Dennoch tastet er sich langsam an das Leben eines Paraplegikers heran. Er setzt sich intensiv mit sich selbst auseinander und kommt zum Entschluss, dass das Leben auch mit Rollstuhl noch einen Sinn hat. «Ich habe mich entschlossen zu leben und von da an ging es aufwärts.»
Ich schaue Hitzi zu wie er mit seiner Fotokamera ein Bild vom Vierwaldstättersee schiesst. Wie kommt es, dass es ihm heute so gut geht? «Wie viele Leute auf der Welt würden mit mir tauschen, nur um jeden Tag das zu essen, was ich während der Reha ass?» Hitzi packt die Kamera wieder weg und schaut mich an: «Ich realisierte, der Rollstuhl ist nicht das Ende.»
#Hitzigram
Hitzi erzählt aus seinem Leben im Rollstuhl. Entdecke die 5-teilige Serie in Zusammenarbeit mit Simon Hitzinger.
Portrait über Hitzi
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