Giulia Damiano und ihr Freund

Kraftakt nach dem Weltuntergang

Ein Turnunfall machte Giulia Damiano zur Paraplegikerin. Die Lausannerin kämpfte sich aus dem Tief – und ist heute das Gesicht einer Sensibilisierungskampagne der Schweizer Paraplegiker-Stiftung in der Romandie.

Text: Peter Birrer
Fotos: Sabrina Kohler

Sie sitzt neben der Gymnastikmatte am Laptop, wobei ihr ein Schwedenkasten als Schreibtisch dient. «Wir machen die Übung einmal», ruft Giulia Damiano der Gruppe zu. «Und wir geben alles!» Seit fast zwei Stunden turnen die Mitglieder von gymPully an diesem Montagabend – und werden nun noch einmal gefordert. Die 26-Jährige startet die Musik, notiert detailliert ihre Beobachtungen und teilt der Gruppe anschliessend mit, was ihr gefallen hat. Und was nicht.

Selbst eine Hechtrolle auf die Matte zaubern oder einen perfekten Handstand vormachen – das kann sie nicht mehr. Giulia Damiano verunglückte vor drei Jahren beim Geräteturnen in genau dieser Halle, der Salle Omnisports in Pully VD. Heute begleitet sie die Trainings als Coach.

Giulia Damiano und die Turngruppe, die sie coacht.

«Meine neue Rolle macht Spass»

Um 22 Uhr ist Feierabend. Sie spürt die Müdigkeit nach einem langen Tag. Aber zum Ausdruck kommt tiefe Zufriedenheit: «Es war cool», sagt Giulia Damiano. Schmerzt es sie, nur zuschauen zu müssen? «Nein. Es wäre schwieriger für mich, daheim zu sitzen und zu wissen, dass meine Kolleginnen und Kollegen gleichzeitig turnen. So kann ich weiterhin teilnehmen. Und meine neue Rolle macht mir grossen Spass.»

Giulia Damiano, die im Waadtländer Dörfchen Vers-chez-les-Blanc aufwächst, liebt die Bewegung, vor allem das Turnen. Als sie an der Universität Lausanne Sportmanagement studiert, findet sie in Pully ideale Bedingungen, um ihre Leidenschaft auszuleben.

Am 16. November 2021 fährt sie nach einem Studienkurs in Neuenburg direkt in die Halle. Sie möchte an den Ringen Figuren einstudieren. Nichts Aussergewöhnliches, nichts Verrücktes; als routinierte Turnerin kann sie die Risiken einschätzen. Doch an diesem Abend passiert ein Fehler, den sie sich nicht erklären kann. Bei einer Figur hat sie Mühe mit dem Timing und ein plötzlicher Schlag lässt sie die Ringe loslassen. Aus fünf, sechs Metern stürzt die junge Frau zu Boden und landet auf dem Rücken. Sie erinnert sich an «wahnsinnige Schmerzen». Und daran, dass sie keine Gefühle mehr in den Beinen hat.

Verliebt und voller Sorgen

In derselben Nacht wird sie in der Lausanner Universitätsklinik zehn Stunden lang operiert, zwei Tage später folgt ein weiterer Eingriff. Der Begriff Querschnittlähmung war ihr nicht fremd, doch jetzt erfährt sie am eigenen Körper, was er wirklich bedeutet. «Ich hatte tausend Fragen, aber bekam keine Antwort», sagt sie. «Es war schrecklich – der Weltuntergang.»

Zehn Tage nach dem Sturz kommt sie zur Rehabilitation ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil. Sechs Wochen liegt sie im Bett, geplagt von der Angst, nicht mehr aufsitzen zu können, denn sie hat enorme Schmerzen im Rücken und sofort Schwindelgefühle. Und da ist noch eine andere Sorge. Kurz vor dem Unfall hat sie sich in Alejandro Cuba Stocks verliebt, der in einer anderen WG im selben Lausanner Wohnhaus lebt. Der Student versichert ihr sofort: «Ich bleibe bei dir.»

«Ich kenne niemanden, der mental stärker ist als sie.»

Alejandro Cuba Stocks

Jede Woche fährt er nach Nottwil, um ihr Mut zu machen, sie zu trösten, mit ihr zu weinen. Ihn wühlt es auf, sie in ihrem Zustand zu sehen. Aber noch schlimmer ist es, wenn er sich alleine auf den weiten Heimweg machen muss. Für Giulia Damiano ist ihr Freund der wichtigste Rückhalt in einer Phase, in der sie oft zweifelt. Sie denkt, sie mache zu langsam Fortschritte. Sie muss Geduld lernen und sich auf viel Neues einstellen. Besonders zu schaffen macht ihr das Blasen- und Darmmanagement. Und wenn sie sich im Rollstuhl im Spiegel sieht, denkt sie manchmal: «Nein, Giulia, das bist nicht du.»

Die Stadt, ein grosses Hindernis

Ende April 2022 kehrt Giulia Damiano nach Lausanne zurück. Ihr Alltag fühlt sich unendlich viel komplizierter an als vor dem Unfall. Sie nimmt die Stadt als ein grosses Hindernis wahr, in dem sie sich mit dem Rollstuhl zurechtfinden muss. Sie sagt: «Das SPZ ist im Vergleich zu Lausanne ein barrierefreies Disneyland.»

Spontane Ausflüge oder Abstecher in die Stadt werden seltener: «Wenn wir zusammen etwas unternehmen wollen, müssen wir vorher jeweils die WC-Situation abklären. Oder herausfinden, ob eine Lokalität überhaupt mit dem Rollstuhl zugänglich ist. Die Planung nimmt deutlich mehr Zeit in Anspruch als vorher.»

Alejandro Cuba Stocks sitzt am Küchentisch der Wohnung, in die er mit seiner Freundin eingezogen ist. Er hält ihre Hand fest und sagt: «Giulia hatte Angst und ihr Selbstbewusstsein litt enorm. Aber das hat sie nicht davon abgehalten, Menschen aus dem nahen Umfeld mit Überzeugung zu vermitteln, dass alles gut kommt. Ich kenne niemanden, der mental stärker ist als sie.»

Ein Tattoo zeigt den Neuanfang

Giulia Damiano kullern Tränen über die Wangen. Die Worte lösen Emotionen aus, die sie nur selten zeigt. «Ich hasse Mitleid», sagt sie. «Und ich hasse es, mich zu beklagen.» Sie gewöhnt sich immer mehr an ein Leben, das sich gegenüber früher in etlichen Bereichen unterscheidet. Der Verarbeitungsprozess dauere noch an, erzählt sie, und vermutlich werde sie ihn nie richtig abschliessen: «Trotzdem kann und werde ich es gut haben. Für mich ist das kein Widerspruch.» Sie klammert sich an die Hoffnung, eines Tages wieder gehen zu können: «Mir ist klar, in welcher Situation ich mich befinde. Und doch glaube ich, dass sich daran etwas ändern kann.»

Als Zeichen des Neuanfangs hat sie sich am Oberarm ein Tattoo stechen lassen. Die Angst ist abgelegt, die sie anfangs in Nottwil quälte: dass sie vielleicht nie mehr selbstständig und selbstbestimmt leben kann. Ihren Zweifeln begegnet sie mit Willen und Disziplin. Das Transferieren in den Rollstuhl oder ins Auto ist für die Turnerin kein Problem. «Egal, in welcher Situation ich mich befinde, ich strebe Lösungen an», sagt sie. «So schwierig der Prozess der Rehabilitation war, und so sehr ich zwischendurch haderte: Resignation kam nie auf. Ich entdeckte immer wieder alternative Ansätze, die mir Mut gaben.»

Beharrlichkeit zahlt sich aus

Hatte sie früher bei einer Turnübung Mühe, konnte sie sich auf ihre Beharrlichkeit verlassen. Solche Eigenschaften kommen ihr auch im Studium und Berufsleben zugute. Als während der Coronapandemie die Vorlesungen virtuell stattfanden, schaltete sie sich aus Nottwil hinzu – und absolvierte die Semesterprüfungen. Es war eine willkommene Ablenkung: «Dank dem Studium beschäftigte ich mich nicht ständig mit dem Thema Querschnittlähmung.»

Nach dem Studium findet Giulia Damiano die für sie perfekte Herausforderung: Sie arbeitet auf dem Generalsekretariat des Eidgenössischen Turnfests, das 2025 in Lausanne stattfindet. Rund 70 000 Teilnehmende und 300 000 Besuchende werden erwartet. Ihr 50-Prozent-Pensum läuft bis nach dem Grossanlass. In der Organisation übernimmt auch ihr Freund eine ehrenamtliche Aufgabe im Themenfeld Zugänglichkeit, Gleichstellung und Inklusion.

Alejandro Cuba Stocks ist ein talentierter Fussballer, hauptberuflich in der Medieneinheit des europäischen Fussballverbandes Uefa beschäftigt – und durch Giulias Unfall besonders sensibilisiert. Oft kann er nur den Kopf schütteln, wenn er Sportanlagen sieht, bei denen an alles gedacht wurde, nur nicht an Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, weist er auf die Bedeutung von Zugänglichkeit und Inklusion hin.

Giulia Damiano Auf dem Plakat sitzt sie in einer Turnhalle im Rollstuhl vor den Ringen. Ihre Botschaft: «Cela peut arriver à toutes et à tous.» (Das kann jeder und jedem passieren.)

«Eine mental sehr starke Frau»

Sarah Cudré fühlt sich Giulia seit dem Unfall noch tiefer verbunden. Als sie in jener Nacht erfährt, was passiert ist, bekommt sie Angst. Sie weiss, welche Auswirkungen eine Querschnittlähmung hat. Umso grösser ist ihre Bewunderung, wie die Freundin ihren Alltag meistert: «Giulia weiss, dass sie ihre Zeit bewusster einteilen und managen muss. Sie kann nicht mehr tausend Dinge gleichzeitig machen.» Noch etwas ist Sarah Cudré aufgefallen: «Giulia ist offener geworden.»

Am Montagstraining nimmt auch Mathilde Rosat teil. Sie hatte aus unmittelbarer Nähe mitbekommen, wie Giulia Damiano verunglückte. Die Schmerzensschreie hat sie noch heute im Ohr. Und sie erinnert sich an die beklemmenden Gefühle in den Tagen danach. Als sie erfährt, dass Giulia im Schweizer Paraplegiker-Zentrum behandelt wird, geht es ihr wie vielen im Turnverein: Sie ist überzeugt, dass Giulia wieder auf die Beine kommt. Doch die Hoffnung zerschlägt sich beim ersten Besuch in der Spezialklinik. «Wirst du wieder laufen können?», fragt sie Giulia. Die Antwort schockiert sie: «Nein.»

Wie erlebt sie Giulia heute? «Als eine mental sehr starke Frau, die unsere Turngruppe kompetent coacht», sagt Mathilde Rosat. «Giulia ist humorvoll, lösungsorientiert und – so nehme ich sie wahr – zufrieden. Ihre sensible Seite legt sie eher selten offen.»

Sport als zentraler Faktor

Es wird Dienstag. Bei Giulia Damiano ist von Erholung nach dem langen Montag nichts zu sehen. Vor dem Mittag fährt sie nach Villeneuve in eine Kletterhalle. Mit Muskelkraft und der Unterstützung eines Trainers zieht sie sich die Wand hoch. Das gibt ihr ein Gefühl von Freiheit.

Die Frau klettert, spielt Tennis, macht Krafttraining, ist Vizepräsidentin des Turnvereins gymPully, amtet als Wertungsrichterin und arbeitet für das Eidgenössische Turnfest Lausanne 2025. «Der Sport war immer ein wichtiger Bestandteil meines Lebens», sagt sie. «Und wird es wohl bleiben.» Während der Erstrehabilitation in Nottwil hat sie viele neue Disziplinen ausprobiert.

Aktive Kletterin und engagierte Trainerin: Der Sport hat in Giulia Damianos Alltag einen hohen Stellenwert.
Aktive Kletterin und engagierte Trainerin: Der Sport hat in Giulia Damianos Alltag einen hohen Stellenwert.

Pläne für die Zukunft schmiedet sie nicht. Oder nicht mehr. «Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollen wir unser Leben stabilisieren», erklärt Alejandro Cuba Stocks. Für ihn und seine Freundin heisst dies: in der Berufswelt ankommen, sich eine existenzielle Grundlage sichern – und gemeinsam glücklich sein.

Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.

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