Liebesglück und Höllenschmerz
Andrea Treier hat vier Bandscheibenvorfälle und zwei Rückenoperationen hinter sich. Die 34-Jährige lebt mit einer inkompletten Paraplegie – und ist wegen eines Irrtums sehr glücklich.
Text: Peter Birrer
Fotos: Sabrina Kohler
Ein Schuss Humor darf sein: «Vielleicht war ich im ersten Leben ja eine Hexe?», fragt Andrea Treier und lächelt. Sie würde gerne erfahren, weshalb ihr all das widerfährt, was sie seit Ende Mai 2022 durchmachen muss. Aber sie weiss: Auf ihre Fragen erhält sie keine Antwort.
Andrea sitzt am Stubentisch eines Hauses fernab des Strassenlärms, umgeben von Bäumen, Grün und Bergen. Als sie das erste Mal hier war, in diesem Idyll der Appenzeller Gemeinde Wasserauen am Fusse der Ebenalp, dachte sie: «Wow, das ist ein Paradies!» Ein Ort, der ihr Kraft gibt, Halt und Zuversicht. Und davon kann sie eine Menge gebrauchen. Die 34-Jährige hat Monate hinter sich, in denen ihr Leben komplett aus den Fugen geraten ist. Sie waren geprägt von einem Wirrwarr an höllischen Schmerzen und schönen Gefühlen.
Der Irrtum als Glücksfall
An Auffahrt 2022 fährt Andrea mit ihrer Freundin Eveline Hagenbuch nach Flumserberg. Sie wollen die rare gemeinsame Zeit mit Wandern verbringen. Als sie den Tag ausklingen lassen und in der Ferienwohnung über Partnerschaften reden, hat Eveline einen Rat. Andrea, seit eineinhalb Jahren Single, solle sich doch auf einer Dating-Plattform anmelden, sie werde bestimmt fündig.
Andrea ist skeptisch und doch neugierig. Sie definiert einen Radius von 30 Kilometern um ihren Wohnort Othmarsingen AG, wer ausserhalb lebt, kommt als Kandidat nicht infrage. Doch ihr unterläuft ein Irrtum: Sie befindet sich nicht daheim, sondern oberhalb des Walensees, und auf einmal meldet sich ein Mann aus Appenzell Innerrhoden, keine 25 Kilometer Luftlinie entfernt. Sie schmunzelt, als sie realisiert, weshalb sich jemand aus diesem Kanton meldet. Auf den ersten schriftlichen Austausch folgt ein zweiter. Diese Person lässt Andrea nicht mehr los. Es kribbelt im Bauch, Emotionen entstehen, die mit der Zeit intensiver werden.
Leben mit einem Lymphödem
Aber das Glück wird getrübt. Am Sonntagmorgen verspürt sie einen Schmerz links im Gesäss, der in den Oberschenkel ausstrahlt. Das linke Bein macht ihr seit fast zwanzig Jahren Sorgen. Aufgrund eines Lymphödems trägt sie Kompressionsstrümpfe, sonst schwillt das Bein sofort an. Damit hat sie sich abgefunden. Aber was sich nun bemerkbar macht, beunruhigt sie.
Ein Besuch im Thermalbad bringt keine Schmerzlinderung. Am Abend, zurück in Othmarsingen, greift sie zu Entzündungshemmern. Ihr ist durchaus bewusst, was sie einnimmt, den Umgang mit Medikamenten kennt die ausgebildete Tierärztin sehr wohl. Sie glaubt, damit zu genesen.
Doch sie leidet immer mehr. Nachts muss sie alle zwei Stunden aufstehen, weil sie nicht mehr liegen kann, die höllischen Schmerzen treiben ihr Tränen in die Augen. Schliesslich ringt sie sich zu einem Termin beim Hausarzt durch, drei Tage nach den ersten Signalen in der linken Gesässhälfte.
Andrea Treier befürchtet einen Bandscheibenvorfall im unteren Rücken, ähnlich wie im Frühjahr 2020 an der Halswirbelsäule. Der Hausarzt tendiert zu muskulären Verspannungen. Er verordnet eine erhöhte Medikamentendosis und nach der zweiten Sprechstunde zusätzlich Physiotherapie. Von einem MRI sieht er ab.
Mit Schmerzmitteln «abgeschossen»
Besserung tritt nicht ein, im Gegenteil. Einmal mitten in der Nacht schleppt sich Andrea vom Schlafzimmer in die Küche, sackt zusammen, schafft es gerade noch, telefonisch ihren Stiefvater zu erreichen, der sie in die Notaufnahme nach Baden fährt. Im Spital erhält sie intravenös eine ganze Palette an Schmerzmitteln. Ein paar Stunden später wird sie nach Hause geschickt – zusätzlich mit Opiaten, also Medikamenten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Aber wieder ohne MRI-Untersuchung. Diese erfolgt erst eine Woche später auf Drängen der Patientin. «Nach Tagen, in denen ich mich voll abschoss», wie sie sagt. Will heissen: Sie hat sich mit den starken Schmerzmitteln zugedröhnt.
Die MRI-Bilder liefern ein ernüchterndes Ergebnis: Man sieht drei Bandscheibenvorfälle in der Lendenwirbelsäule, wobei der mittlere besonders gross ist und die Nerven stark zusammendrückt. Sie bittet den Hausarzt, sich die Bilder anzuschauen, den Bericht zu lesen und sich so schnell wie möglich zu melden. Als die Rückmeldung stundenlang ausbleibt, fährt ihre Mutter sie erneut in den Notfall nach Baden. Für Andrea ist klar: Sie würde sich weigern, ohne Behandlung wieder nach Hause zu fahren. Eine Spezialistin des Wirbelsäulenteams untersucht sie. Und auf einmal geht es schnell. Noch am gleichen Abend wird Andrea operiert, einen anderen Ausweg gibt es nicht, um diesen Bandscheibenvorfall zu beheben.
Sie ist gelähmt
Als sie nach drei Stunden erwacht, sind die Schmerzen verschwunden. Aber sie spürt beide Beine nicht mehr, hat Sensibilitätsverluste im Gesäss- und Genitalbereich, kann mehrere Muskeln nicht mehr ansteuern, die Blase funktioniert so wenig wie der Darm. Sie ist gelähmt. Weshalb, das kann ihr niemand klar beantworten.
Sie möchte zurück zur Arbeit, sie möchte die Liebe geniessen mit einem Mann, der in diesen schwierigen Momenten stets bei ihr war und sie, wann immer möglich, besucht hat. Aber zuerst muss sie in die Rehabilitation und entscheidet sich für das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil.
Andrea Treier ist eine Kämpferin, die schon manchen Rückschlag erlitten hat. Einerseits das Lymphödem, aber vor allem die Tragödie um ihren Vater, der am Tag ihrer letzten Maturaprüfung freiwillig aus dem Leben schied. Die junge Frau nimmt sich vor: «Ich werde Nottwil als Fussgängerin verlassen.»
Als sie im Juni 2022 ins SPZ eintritt, erschrickt sie: Vier bis sechs Monate soll der Aufenthalt dauern. Für sie, die ständig auf Zack ist, klingt das nach einer Ewigkeit. Doch sie kann nicht auf eine schnelle Entlassung hoffen. Die Diagnose lautet: inkomplette Paraplegie.
Sie spürt Frust und Ohnmacht. Gleichzeitig ist sie getrieben vom Ehrgeiz, in Nottwil alles zu lernen, was ihr ein Stück Selbstständigkeit zurückgibt. Am liebsten würde sie nonstop an sich arbeiten, im Fitnessraum, in der Physiotherapie, der Ergotherapie. Doch die vielversprechende Phase dauert nicht lange.
Rückschlag aus dem Nichts
Wie aus dem Nichts heraus kommen starke Rückenschmerzen. Das linke Bein ist wieder beinahe vollständig gelähmt, sämtliche Fortschritte scheinen zunichte. Die MRI-Untersuchung im SPZ zeigt einen neuen Bandscheibenvorfall. Er macht einen zweiten operativen Eingriff im Bereich der Lendenwirbel nötig.
Was sie erlebt, was sie fühlt, behält sie nicht für sich. Andrea schreibt alles nieder und schickt es ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Diese Form der Verarbeitung tut gut. Sie schildert neuropathische Schmerzen am Gesäss, die sie täglich begleiten – «wie wenn man mir mit einer Bohrmaschine ins Gesäss respektive in beide Sitzbeinhöcker bohren würde».
Sie scheut sich auch nicht vor Bereichen, die mit Scham verbunden sind – Darm, Blase, Sexualität: «Wie geht das, wenn der Darm, die Blase oder beim Mann der Penis gelähmt sind? Wenn die Sensibilität in diesen Bereichen verloren ist und man nichts oder nur sehr wenig spürt? Ich bin sicher, dass ihr euch das gar nicht vorstellen mögt. Nur schon beim kleinsten Gedanken daran spürt man, wie einschneidend es sein muss. Was soll ich sagen: Es beschäftigt! Es frustriert! Es demütigt! Es entwürdigt!»
Aber eines will sie nicht sein: ein Bremsklotz für andere. Ihre Mutter, Jacqueline Jäggi, ist in diesen emotional schwierigen Phasen eine wichtige Stütze. Sie ist stolz, wie sich ihre Tochter jedes Mal fängt: «Nach der zweiten Operation hat sie viel geweint, weil es bedeutete: Jetzt geht alles wieder von vorne los.» Aber ihre Tochter blieb zum Glück stark, sagt Jacqueline Jäggi. «Wir wussten: Sie ist in besten Händen und wird rundum betreut.»
Umzug ins Appenzellische
Am 23. Dezember 2022 verlässt sie das SPZ im Rollstuhl. Ein halbes Jahr war sie auf einer Achterbahn der Gefühle unterwegs. Als Frau, die ihren Freund just dann kennenlernte, als sie von unaushaltbaren Schmerzen überfallen wurde. Die sich in Nottwil viel Geduld aneignen musste und sich über jede kleine Besserung freute. Und die jedes Mal «furchtbar litt», wenn sich Andreas Signer nach einem Besuch wieder verabschiedete.
Im Januar 2023 fängt für Andrea ein neues Leben an. Sie zieht von Othmarsingen nach Wasserauen und startet mit ambulanter Therapie. Seit März pendelt sie zweimal pro Woche von Appenzell an ihren Arbeitsort Zürich. Erhalten geblieben ist ihre Einstellung. Sie sagt: «Ich habe einen harten Kopf.» Solange sie mit Gehstöcken und einer Orthese am linken Bein ausreichend stabil gehen kann, will sie auf den Rollstuhl verzichten.
Sie leidet unverändert an neuropathischen Schmerzen im Gesäss und in den Fersen: «Sie treiben mich manchmal in den Wahnsinn», sagt sie. Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf. Mit eisernem Willen und Fleiss verbessert sie ihre körperlichen Fähigkeiten: «Die Nerven sind nicht durchtrennt, deshalb glaube ich an eine Chance.» Sie traut sich inzwischen auch wieder auf kleine Ausflüge zu Fuss in Begleitung ihres Freundes und der Hündin Juna. Täglich hofft Andrea, dass die Schmerzen nachlassen und sie die verlorene Sensibilität Stück für Stück zurückgewinnt.
Der Partner ist tief beeindruckt
Gestützt wird sie von einem Partner, dem es nie in den Sinn gekommen wäre, sich von ihr abzuwenden. Der Landschaftsgärtner lernte einen Menschen kennen, der sich vehement gegen das Schicksal auflehnt. «Es ist oft schwierig, machtlos zuschauen zu müssen – und am liebsten würde ich ihr die Schmerzen abnehmen», sagt Andreas Signer. «Aber wenn jemand es schafft, eine solche Herausforderung zu meistern, dann ist es Andrea.»
Sie beeindruckt nicht nur ihn, sondern auch ihre langjährige Freundin Eveline Hagenbuch, die einmal pro Woche nach Nottwil reiste. Eingebrannt haben sich ihr die Bilder vom ersten Besuch, als sie Andrea im Rollstuhl sah: «Es war brutal, sie so zu sehen. Aber wie sie damit umgegangen ist, verdient meine grösste Bewunderung.»
Anderthalb Jahre sind seit ihrem Aufenthalt in Flumserberg vergangen. In Erinnerung geblieben ist der Abend, als sich über die Datingplattform etwas anbahnte mit einem Mann aus einem fernen Kanton. Eveline Hagenbuch sagte damals noch: «Aber nicht, dass du jetzt ins Appenzellische ziehst!» Heute weiss sie: «Andrea hat einen Volltreffer gelandet.» Andrea Treier hat ihr Glück gefunden, das den Schmerz lindert. Vielleicht ist das ja die Antwort auf die Frage, ob sie im ersten Leben eine Hexe war.
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