«Mein Sohn ist ein kleines Wunder.»
Julia Gartenbach war innerhalb weniger Monate mit zwei neuen Lebenssituationen konfrontiert: Das Leben im Rollstuhl und das Leben im Rollstuhl mit Baby. Wie hat sie dies geschafft?
Julia Gartenbach ist Mutter und Rollstuhlfahrerin. Doch in ihrem Fall kam zuerst die Schwangerschaft und dann der Rollstuhl. Im 4. Monat erleidet sie einen Bandscheibenvorfall, der aufs Rückenmark drückt. Heute benutzt sie meist den Rollstuhl, kann aber dank hartem Training wieder kurze Strecken gehen. Das Wichtigste: Sohn Pino ist dreieinhalb und ein kerngesunder, lebhafter Junge.
Text: Antonia Tanner
Bilder: Antonia Tanner / Beatrice Felder
Die damals 29-jährige Frau mit den strahlend blauen Augen erfuhr im Januar 2014, dass sie schwanger war. Da war sie noch Fussgängerin, arbeitete als Physiotherapeutin und lebte zusammen mit ihrem Partner David in Grenchen (SO). Mit der freudigen Nachricht kamen auch die Rückenschmerzen. Die Ärzte, die sie konsultierte, schoben die Schmerzen auf die Schwangerschaft und deren Einfluss auf den Körper. Die Schmerzen waren zeitweise so stark, dass sie immer mal wieder zu Hause bleiben oder sich während des Arbeitstages mehrmals hinlegen musste. Im März war sie deswegen fast jede Woche beim Gynäkologen. Irgendwann konnte sie kaum mehr laufen und wurde per 1. April krankgeschrieben.
Plötzlich gelähmt
Dann kam der 7. April, der schwarze Tag, nach dem nichts war wie zuvor. Julia stand früh auf, ging ins Bad und musste sich wegen der Schmerzen auch gleich wieder hinsetzen. Und da passiert es: «Ich habe so eine Art ‹Plopp› gespürt an der Wirbelsäule und hatte sofort das Gefühl, als ob unten und oben nicht mehr zusammenpassen würden. Ich habe mich dann sofort hingelegt, meine Beine wurden kalt und kribbelten. Bewegen konnte ich mich schon da kaum mehr.» Was jetzt? Julia war alleine zuhause, die Tür zugeschlossen, das Telefon schien unerreichbar. Die Beine gehorchten ihr nicht mehr und sie wusste in diesem Moment, da ist etwas ganz schön im Argen. Wenn sie heute daran zurückdenkt, sei aber das Gefühl, hilflos auf dem Boden zu liegen, das Schlimmste gewesen und ein tiefes Trauma, das noch nicht verarbeitet ist.
OP erst nach 37 Stunden
Irgendwie konnte sie sich zum Telefon hinziehen, welches ausnahmsweise auf dem Couchtisch lag. Sie rief zuerst ihren Partner an. Dieser verständigte sofort eine Ambulanz, welche sie nach Solothurn in die Notaufnahme brachte. Und obwohl sie sich nach einer Stunde in der Notaufnahme noch immer nicht bewegen konnte, sahen die Ärzte den Grund für die Rückenschmerzen und die Lähmungserscheinungen in der Schwangerschaft. Die Nacht verbrachte Julia mit unerträglichen Schmerzen in der Gynäkologie-Abteilung des Spitals. Am nächsten Tag wurde nach Reflextests ein MRI angeordnet, worauf endlich eine Diagnose feststand: Julia hatte einen Bandscheibenvorfall zur Mitte, also zum Rückenmark hin, erlitten. Nach 37 Stunden mit starken Schmerzen wurde Julia im Inselspital Bern operiert. Weil sie sehr spät nach dem Bandscheibenvorfall operiert wurde, war die Verletzung des Rückenmarks bereits so stark, dass ihre Füsse und Beine gelähmt waren.
Schwangerschaft, Reha und Hochzeit
Mitte April, knapp zwei Wochen nach der Operation, wurde Julia nach Nottwil verlegt. Die Zeit in der Reha war schwierig, mit dem wachsenden Bauch wurden auch die Therapien beschwerlicher. Man diagnostizierte ihr inkomplette Paraplegie, ein Leben im Rollstuhl. Sie machte kaum Fortschritte in den Therapien und konnte aufgrund der 'anderen Umstände' nicht so trainieren wie vorgesehen. Julia betont, dass ihre Schwangerschaft sehr gut betreut und überwacht wurde: «Man hat jedes noch so kleine Ziehen ernst genommen.» Zwischendurch konnte sie für zwei Wochen nach Hause, um sich von den vielen Therapien zu erholen und um zu organisieren – was dringend nötig war. Denn Julia und David mussten sich nach ihrer Hochzeit nicht nur nach einer rollstuhlgängigen Wohnung umschauen, sondern auch alles für den Nachwuchs besorgen. «Es war eine unbeschreibliche physische und psychische Belastung. Ich habe einfach funktioniert, auch als das Baby dann da war.» Sie habe versucht, nicht viel über das nachzudenken, was ihr passiert sei.
Und dann kam Pino …
Julia blieb bis zur Geburt von Sohn Pino in Nottwil. Er kam am 3. September 2014 in Sursee per Kaiserschnitt zur Welt. Julia verzichtete wegen Pino auf viele Medikamente, hatte aber zwei Vollnarkosen. Darum war der kleine Pino nicht nur für seine Eltern, sondern auch medizinisch gesehen ein kleines Wunder. Umgezogen wurde eine Woche vor Pinos Geburt. Die frischgebackene Mutter kam von der Reha direkt ins Wochenbett in eine Wohnung voller Kisten. Ihre Eltern seien gekommen, um beim Einräumen und Möbelaufbau zu helfen. «Ich sass da mit Pino an der Brust und habe nur delegieren können.» Das sagt sie heute mit einem Lachen.
… und erneut steht alles Kopf
Julia sah sich innerhalb weniger Monate mit zwei neuen Lebenssituationen konfrontiert. Das Leben im Rollstuhl und das Leben im Rollstuhl mit Baby. Sie hatte weder Zeit, sich mit dem einen noch dem anderen richtig auseinanderzusetzen, sich vorzubereiten. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum hatte man ihr den Kontakt zu zwei Rollstuhlfahrerinnen und Müttern organisiert, welche ihr Tipps zu Hilfsmitteln und zum Umgang mit einem Baby gaben. Auch ihre Hebamme habe sie unterstützt. Aber Julia meint, dass sie einfach ausprobiert hätte. Am Anfang sei sie vor allem mit dem Swiss-Trac und mit dem Baby im Tragetuch, später im Velositz, unterwegs gewesen. Sie konnte damals noch nicht Auto fahren und war auf die Fahrdienste ihres Mannes angewiesen.
Nach dem Wochenbett ging der strenge Therapiealltag wieder los: «Ständig hatte ich Termine in der Physio- und Ergotherapie. Auch mit Pino musste ich regelmässig zur Kontrolle und in die Osteopathie. Wenn wir dann endlich mal frei hatten, sind wir einfach zuhause geblieben.» Dank dem gesprochenen Assistenzbeitrag wird sie im Haushalt entlastet. Unterstützung bekommt sie aber vor allem von Freundinnen und Nachbarn. Denn vieles wäre für die junge Mutter alleine nicht machbar.
Wieder laufen lernen
Nach knapp viereinhalb Monaten stand die zweite Reha in Nottwil an. Julia erhielt viel Unterstützung und man ging sehr auf sie als Mutter eines Säuglings ein. Man organisierte und finanzierte ihr ein Einzelzimmer und für Pino einen Vollzeit-Kitaplatz. Julias Tage waren so durchorganisiert, dass sie oft nicht die Kraft fand, Pino über Mittag zu stillen. «In diesen zweieinhalb Monaten habe ich mich gefühlt wie eine alleinerziehende Mutter. Am Morgen hat ihn meist jemand abgeholt, damit ich Zeit hatte, mich fertig zu machen. Dann hatte ich Termin an Termin und am Abend bin ich mit dem Swiss-Trac in die Kita gefahren, um ihn zu mir ins Zimmer zu holen. Du kannst dir ja vorstellen, dass die Nächte mit Baby nicht wirklich erholsam waren.» Julia machte jedoch während dieser Zeit grosse Fortschritte im Lauftraining. Ende der Reha konnte sie mit Hilfe von Orthesen und Gehstöcken wieder ein paar Schritte gehen. Mit Pilatesstunden und mindestens zwei Stunden Kraftund Ausdauertraining pro Tag kann sie heute mit Orthesen und einer Art Walking-Stöcken kurze Strecken laufen.
Zeit mit der Familie
Mit ihrem Sohn verbringt sie gerne Zeit draussen: «Als Pino noch klein war, bin ich nur auf den Spielplatz gegangen, wenn noch andere Mütter aus dem Haus dort waren. Sie haben mir mit ihm geholfen und eingegriffen, wenn ich nicht konnte.» Als Pino zu laufen begann, habe sie ihm halt eine Leine angelegt. Sie lacht und meint: «Was sollte ich denn sonst machen? Aber das hat er sowieso nicht lange mitgemacht.» Julia will kein Risiko eingehen. Alleine ins Schwimmbad geht sie nicht und wenn sie mit ihrem Sohn spazieren gehe, dann nur auf verkehrsberuhigten Strassen. Heute gehen die beiden oft mit dem Velo raus. Julia hat ein Elektrodreirad mit einem speziellen Sitz für sie und einem für Pino. Ihr Mann David geht sehr früh arbeiten und ist am frühen Nachmittag wieder zuhause. Dann gehen sie zusammen auf den Spielplatz oder einkaufen. Julia geniesst ihre beiden Jungs: «Die Zeit mit der Familie ist mir das Wichtigste.»
Jetzt Mitglied werden
Traurig, aber wahr: Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt. Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Damit Betroffene nicht zusätzlich von Geldsorgen geplagt werden, erhalten Mitglieder bei einer unfallbedingten Querschnittlähmung mit permanenter Rollstuhlabhängigkeit eine einmalige Zahlung von CHF 250 000.–.
Das könnte Sie auch interessieren
Werden Sie jetzt Mitglied und erhalten Sie im Ernstfall 250 000 Franken.