Inkompletter Paraplegiker beim Überfliegen der Alpen

«Mein Unglück ist meine Lebensaufgabe»

Stefen Keller wurde durch einen Gleitschirmunfall querschnittgelähmt. Warum sieht er trotzdem einen Sinn in seinem Unfall?

Es klingt unfassbar: Ein Fussgänger betreibt eine Gleitschirm-Flugschule für Menschen mit Behinderungen. Er stürzt ab und wird selbst zum Querschnittgelähmten. Nein, es ist wahr – Stefan Keller (56), gibt es wirklich. Er fliegt nach wie vor und überquerte im August 2017 sogar die Alpen, mit Gleitschirm und Rollstuhl. Nun startet er im Mai 2019 ein neues Abenteuer: Fliegend und rollend will er vom Weissenstein (SO) nach Girona, Spanien, reisen. Warum hat er das Fliegen nicht aufgegeben?

Text: Tamara Reinhard
Bilder: Stefan Keller

Beim Kaffee auf der Terrasse des Hotel Sempachersee wirkt Stefan Keller förmlich ausgelassen als er von seiner ersten «Alpenüberquerung: Stefan’s Rollstuhl-Challenge» erzählt. Damals, im August 2017, flog er von der Alp Scheidegg im Zürcher Oberland los mit dem Ziel, innert vier Tagen auf dem alten Flugplatz in Ascona, Tessin, zu landen. Die Challenge wäre erfüllt gewesen, hätte er mindestens 50% der Strecke fliegend zurücklegt. 74 Stunden, 270 Kilometer im Rollstuhl und 5 Gleitschirmflüge später landete er in Ascona. Eine grossartige Leistung – doch laut Stefan hat er die Challenge verloren. Lachend meint der Solothurner: «Darum starte ich im Mai 2019 eine neue Challenge!» 

Stefan wurde durch einen schweren Gleitschirmunfall 2013 querschnittgelähmt, als er von einer Turbulenz erfasst und aus gut 20 Meter Höhe auf den Boden geworfen wurde. Als inkompletter Paraplegiker kann Stefan seine Beine noch bewegen, verspürt aber auch dauernd Schmerzen. Kurze Strecken kann er noch laufen, wird aber ein Leben lang auf den Rollstuhl und Krücken angewiesen sein. Mit dem Rollstuhl hat er kein Problem: «Der Rollstuhl gibt mir die Möglichkeit, mein Leben komplett selbstständig zu meistern. Dafür bin ich dankbar trotz Nonstop-Schmerzen.»

Von Weissenstein nach Girona

Bei der nächsten Challenge startet er auf seinem Hausberg Weissenstein, der am Jurasüdfuss liegt. Sein Ziel ist es, innert 14 Tagen und nach 700 km Luftlinie in den spanischen Pyrenäen, in Girona, anzukommen. Das Vorhaben wird mit unvorhersehbaren Hindernissen wie z. B. dicht bewachsenen Waldabschnitten verbunden sein. Auch dafür hat sich Stefan selbst Spielregeln auferlegt: «Bei unwegsamen Gelände oder Steigungen von über 6% darf ich Hilfsmittel wie Bergbahnen, Postautos, etc. benützen.» Wo er die benötigten Zwischenlandungen machen wird, hat er nicht vorausgeplant. «Das macht es noch spannender». 

Anders als bei der ersten Challenge hat er zwei Fussgänger-Gleitschirmpiloten gefunden, die gegen ihn antreten. Martin Kempf und Thomas Zimmermann freuen sich darauf, mit Stefan zusammen aufzuzeigen, welche unterschiedlichen Vor- und Nachteile Fussgänger und Rollstuhlfahrer auf dieser Strecke antreffen werden. Schlussendlich will Stefan beweisen, dass seine Behinderung ihn nicht beeinträchtigt, Gleitschirm zu fliegen. Doch die Fliegerei brachte Stefan in den Rollstuhl. Warum gibt er sie nicht auf?

«Das Leben ist als Paraplegiker nicht vorbei. Man muss sich nur trauen, sich auf ein neues Leben einzulassen.»

Der Rollstuhlfahrer erzählt im Hotel Sempachersee seine Geschichte
Inkompletter Paraplegiker überfliegt die Alpen

Der Traum vom Fliegen

Schon als Kind sprang Stefan mit dem Regenschirm in der Hand durch die Luft und träumte vom Fliegen. Diesen Traum verfolgte er professionell und wurde später Gleitschirm-Fluglehrer. Mit der Gründung seiner eigenen Flugschule «FLUSO», wollte er sowohl Fussgängern als auch Menschen mit Behinderungen unterrichten. «Alle Leute sollen die Chance dazu haben.» Nebenbei war Stefan als Coach und Berater tätig und wurde für sein offenes Herz geschätzt. Seine Schüler nahmen stets mehr als nur Flugerfahrungen vom Unterricht mit.

Stefan war sich den Risiken des Gleitschirmfliegens immer bewusst. Deswegen bot er Kurse nicht im Schnellverfahren an, sondern nur unter der Bedingung, dass sich die Schüler genügend Zeit für die Ausbildung einplanen. Dabei war der gelegentliche Besuch des Schweizer Paraplegiker-Zentrums ein Bestandteil. Dies sollte den Schülern bewusstmachen, dass eine Querschnittlähmung jeden treffen kann. «Schaut, mit Übung und den richtigen Sicherheitsvorkehrungen könnt ihr das Risiko eines Unfalls mindern. Die Einwirkung von Mutter Natur, nicht.»

Der Fluglehrer stürzt ab

Stefan wird selbst mit dem Ernstfall konfrontiert. Er hätte sterben können, als am 26. Juni 2013 ein schwerer Gleitschirmunfall sein Leben für immer verändert. An diesem Schulungstag fliegt er wie gewöhnlich seinen Schülern voraus. Aus 20 Metern Höhe wird er von einer thermischen Turbulenz erfasst. Der Gleitschirm klappt zusammen und innert Sekunden donnert Stefan kopfvoran zu Boden. Mit einem Schädel-Hirn-Trauma und mehreren Frakturen liefert man ihn ins Berner Inselspital. Als sein Zustand stabil ist, steht die Verlegung ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum an: «Querschnittlähmung» lautete die Diagnose.

Ein neues Leben

Während 6 Monaten Rehabilitation arbeitet Stefan daran, sich ein selbstständiges Leben im Rollstuhl aufzubauen. Sich ohne Hilfe anzuziehen, Darm- und Blasenmanagement neu zu erlernen und alleine zu duschen, stehen auf seinem Trainingsprogram. Ein Fluglehrer, der sich vor seinem Unfall für Querschnittgelähmte eingesetzt hatte, ist nun selbst einer. Wie kam er damit zurecht? «Ich wusste, mein Leben ist nicht vorbei als Paraplegiker.» Weil Stefan sich bereits vor dem Unfall mit Querschnittlähmung auseinandergesetzt hatte, entschied er, nicht mit dem Leben zu hadern. Stefan wollte kämpfen.

«Wenn das Leben die Karten neu mischt, musst du dir einen neuen Trumpf aussuchen und den alten weglegen.» Heisst das, die Fliegerei aufzugeben? «Nein. Das Fliegen hat mir im Leben mehr gegeben als genommen.» Stefan kann sich an den Moment erinnern, als er spürte, er will wieder fliegen: «Als ich ans SPZ verlegt wurde, sah ich die Propeller des fliegenden Rollstuhls in der Empfangshalle, den Parikarus. Da wusste ich: Ich werde wieder fliegen.» 

 

«Mir blieb genauso viel erhalten, dass ich immer noch das machen kann, was mir am meisten Kraft gibt: Fliegen.»

Stefan Keller
Stefan Keller

Zurück zur Fliegerei

Bevor er mit der Fliegerei wieder starten konnte, setzte er sich intensiv mit sich auseinander. Auch sein Körper meldete sich zu Wort: «Immer wenn ich auf der linken Seite lag, bekam ich Panik.» Während einer Traumatherapie realisierte er, dass dies mit dem Unfall zu tun hatte. Ein Video bestätigte, wie damals zuerst seine linke Körperseite auf den Boden aufprallte. Stefan analysierte auch die Wetterverhältnisse, die am Unfalltag herrschten. «Aus meteorologischer Sicht sind diese extrem selten. Ein paar Sekunden früher oder später und nichts wäre passiert.» Selbstreflexion und Analysieren halfen ihm dabei, den Unfall gut zu verarbeiten.

 

«Der Unfall bestätigt meine Lebensaufgabe. Ich will Menschen mit Behinderungen dazu ermutigen, sich ein erfülltes Leben aufzubauen.» 

Stefan sieht einen Sinn in seinem Unfall. Er ist wieder als Coach, Berater und als Gleitschirm-Fluglehrer im Rollstuhl tätig. «Der Unfall bestätigt meine Lebensaufgabe. Ich will Menschen mit Behinderungen dazu ermutigen, sich ein erfülltes Leben aufzubauen.» Stefan erzählt wie einer seiner Flugschüler, ein Tetraplegiker, sich zum ersten Mal 12 Jahre nach dem Unfall selbstständig vom Boden in den Rollstuhl transferieren konnte, obwohl dieser glaubte, er könne das nicht. «Mir wurde genau so viel genommen, dass ich mich in jemanden mit ähnlichem Schicksal hineinfühlen kann und dafür bin ich dankbar.» Und wie war Stefans erster Flug nach dem Unfall? «Es war ein Nachhausekommen und war für mich der offizielle Abschluss der Reha.» Stefan ist glücklich mit seinem Leben, und würde das Rad der Zeit nicht zurückdrehen: «Mir blieb genauso viel erhalten, dass ich immer noch das machen kann, was mir am meisten Kraft gibt: Fliegen.»

 

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Traurig, aber wahr: Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt. Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Damit Betroffene nicht zusätzlich von Geldsorgen geplagt werden, erhalten Mitglieder bei einer unfallbedingten Querschnittlähmung mit permanenter Rollstuhlabhängigkeit eine einmalige Zahlung von CHF 250 000.–.

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