Symbolbild Behandlung von Rückenschmerzen

Ohne Umwege und Sackgassen

Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil behandelt alle Menschen mit Rückenproblemen. Von der Expertise aus der Arbeit mit Rückenmarkverletzungen profitieren auch Patientinnen und Patienten mit einem allgemeinen Rückenleiden. Und umgekehrt.

 

Text: Stefan Kaiser
Fotos: Walter Eggenberger, Sabrina Kohler und Christoph Schürpf

Wo findet man Rat bei Rückenschmerzen? Rückenleiden zählen in der Schweiz zu den häufigsten Gesundheitsproblemen, doch im Einzelfall ist oft unklar, wodurch ein Schmerz tatsächlich ausgelöst wird. Entsprechend vielfältig ist das Behandlungsangebot. Für die leidgeplagten Menschen bedeutet das nicht selten: Sie wandern von einer Fachperson zur nächsten. Jede bringt zwar ihren jeweiligen Behandlungsfokus ein – doch ohne die komplexen Ursachen fachübergreifend und koordiniert angehen zu können.

Alle ziehen am gleichen Strick

Im Unterschied zu anderen Institutionen sind im SPZ die einzelnen Berufsgruppen Teile eines Behandlungsteams. «Was uns auszeichnet, ist die hohe Interprofessionalität und enge Vernetzung», sagt Pirmin Oberson, Co-Leiter des Therapiemanagements. Dieser Ansatz prägt in Nottwil sowohl die Rehabilitation von Menschen mit Querschnittlähmung als auch die ambulante Behandlung von allgemeinen Rückenleiden. Die Fachleute arbeiten koordiniert am gemeinsam definierten Ziel. «Dadurch entwickelt sich ein starkes gegenseitiges Verständnis der Methoden», erklärt Oberson. «Man arbeitet ergänzend statt parallel oder isoliert und kann sich gegenseitig hinterfragen.»

Derzeit richtet das SPZ seine Rückenmedizin neu aus. Man will in der gesamten Organisation noch direkter von den Patientinnen und Patienten ausgehend denken. Diese «patientenzentrierte» Medizin umfasst alle Abläufe der Abklärung und Behandlung sowie die Nachbetreuung. «Dazu mussten wir nichts neu erfinden», sagt Oberson. «Aber wir vernetzen das Bestehende noch besser miteinander und geben ihm ein organisatorisches Dach.»

Ein wichtiger Punkt ist die Frage nach der richtigen Ansprechperson. Weil es für Rückenleiden ein breites Spektrum an diagnostischen und therapeutischen Methoden gibt, sind die Zuweiser oft unsicher. Eine zentrale Anlaufstelle, wie sie jetzt im SPZ vorgesehen ist, koordiniert für alle Rückenprobleme die nötigen fachlichen Schritte. Das Ziel: Dank der gebündelten Kompetenz im Haus sollen alle Betroffene ohne Umwege und Sackgassen rasch wieder zurück in ihr aktives Leben finden.

 

«Was uns auszeichnet, ist die hohe Interprofessionalität und enge Vernetzung»

Pirmin Oberson, Co-Leiter des Therapiemanagements

Werner Wicki brauchte eine Lösung

Werner Wicki aus Geiss LU hat die Odyssee durch die Sprechzimmer erlebt. Für den ehemaligen Leiter eines Bauunternehmens sind Rückenschmerzen nichts Neues. Er bleibt nach der Pensionierung aktiv, realisiert Projekte und baut seinen Garten um. Ischias kennt er. Doch dann bringt ein Bandscheibenvorfall verbunden mit Wirbelarthrose nie gekannte Schmerzen und Einschränkungen. Die empfohlene Operation verläuft unglücklich. Dem Patienten wird gesagt, er trage eine Mitschuld am schlechten Ergebnis. Werner Wicki erhält immer stärkere Medikamente, zuletzt Morphium. Im Berufsleben hatte der 79-Jährige alles im Griff, jetzt bricht eine Welt zusammen. Als die Nebenwirkungen der Medikamente zur psychischen Belastung werden, meldet er sich bei einer Sterbehilfeorganisation an. «Als Unternehmer bin ich es gewohnt, klare Entscheidungen zu treffen», sagt der. «Ich brauchte endlich eine Lösung.»

Werner Wicki mit seiner Frau im Garten

Wenn er seine gesundheitliche Situation im Sommer 2021 beschreibt, wird die Ausweglosigkeit deutlich, mit der er konfrontiert ist. «Ich steckte in einer Depression», sagt er. «Niemand konnte mich mehr erreichen. Auch meine Frau nicht.» Für die ganze Familie war dies eine schwierige Zeit. Heute kann sich Werner Wicki wieder seinem Garten widmen. Dort ist bereits das nächste Projekt ausgesteckt: «Mein Rückenpavillon», sagt er. Der Name ist Ausdruck der Dankbarkeit, dass er sich doch noch ans Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) gewandt hat.

Über 90 % aller Rückenbeschwerden haben muskuläre Verspannungen oder Überlastungen als Ursache.

Der Patient muss mitarbeiten

Nach der misslungenen Operation lehnt Werner Wicki es ab, sich erneut unters Messer zu legen, als ihm eine Korrektur vorgeschlagen wird. Er gibt sich eine letzte Chance und wählt die Physiotherapie des SPZ. Dort bekommt er einen Plan für eine konservative, also nicht-operative Behandlung seiner Rückenprobleme. Er muss als ambulanter Patient aktiv mithelfen. Etwa bei der MTT, der Medizinischen Trainingstherapie für die Rumpfstabilität und zur Kräftigung, bei den Bewegungsübungen oder in der Gruppentherapie.

Mit all diesen Massnahmen gelingt es Wicki schliesslich, die Schmerzen unter Kontrolle zu bekommen. «Ich erhielt ein neues Körpergefühl und wurde wieder selbstbewusst», sagt der Pensionär. «Aber im Vergleich zu den stationären Patientinnen und Patienten hatte ich nur ein kleines Leiden.» Die Begegnungen im SPZ hätten ihm die Augen geöffnet. Etwa als ihm zu Beginn der Therapie eine hochgelähmte Rollstuhlfahrerin ein aufmunterndes Lächeln schenkt: «Das kommt schon gut …», schien sie ihm zu sagen. Das gab ihm Mut.

Behandlung chronischer Schmerzen

Wer chronische Schmerzen hat, leidet meistens viele Jahre daran. Das Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil steht allen Betroffenen offen, wobei Rückenschmerzen und neuropathische Schmerzen am häufigsten therapiert werden. Chronische Schmerzen sind eine eigene Krankheit. Ihr Hauptmerkmal: Sie ist komplex und jeder Fall ist einzigartig. Das macht die Untersuchung und Behandlung dieser Krankheit so schwierig. Es braucht dazu die Detektivarbeit eines spezialisierten Teams.

Wenn ein akuter Schmerz chronisch wird, stören verschiedene Einflussfaktoren den normalen Krankheits- und Heilungsverlauf. Diese Faktoren können auf der biologischen, der psychologischen und der sozialen Ebene liegen. Deshalb arbeiten am Zentrum für Schmerzmedizin (ZSM) in Nottwil elf verschiedene Berufsgruppen unter einem Dach zusammen und decken alle Bereiche ab, die für eine erfolgreiche Therapie erforderlich sind. «Der wesentliche Punkt unseres Ansatzes liegt darin, dass sich die Fachleute am runden Tisch über einen Fall austauschen», erklärt Tim Reck, der Chefarzt des ZSM. «Verschiedene Therapieelemente ergeben ein Gesamtkonzept, in dem sie sich ergänzen und zusammenwirken.»

Alle Patientengruppen profitieren

Der Behandlungsansatz heisst im Fachjargon «multimodal und interdisziplinär». Er kombiniert also verschiedene Therapien und medizinische Perspektiven, wobei jeweils ein Arzt oder eine Ärztin als Hauptansprechperson die Behandlung koordiniert. «Als Erstes klären wir, welche Körperregionen betroffen sind, und stellen das Behandlungsteam entsprechend zusammen», sagt der Chefarzt. «Wir gehen also von Anfang an mehrdimensional vor.» Kurze Kommunikationswege sind dafür eine wichtige Bedingung.

Patientinnen und Patienten mit Querschnittlähmung leiden häufig an chronischen, insbesondere an neuropathischen Schmerzen. Hier liegt ein Schwerpunkt des ZSM. Der zweite Fokus liegt auf der Behandlung von Rückenschmerzen im grösseren Kontext der Rückenmedizin des SPZ. Dank den fortschrittlichsten Diagnose und Behandlungsmethoden werden mehr als dreissig Prozent der Betroffenen wieder schmerzfrei.

«Ein so breit aufgestelltes Schmerzzentrum kann nur existieren, wenn wir für alle offen sind», erklärt Klinikleiter Tim Reck. Der multimodale und interdisziplinäre Ansatz setze eine gewisse Fallzahl voraus – für die fachliche Expertise ebenso wie für die Wirtschaftlichkeit. So sind rund drei Viertel aller Patientinnen und Patienten, die im ZSM behandelt werden, nicht querschnittgelähmt. Schmerzgeplagte Menschen mit Querschnittlähmung profitieren dadurch von einer Win-win-Situation.

Pirmin Oberson bei der Behandlung eines Patienten

Wenn Pillen nicht helfen

Angeboten wird die ganze Bandbreite an Massnahmen, von psychologisch-psychiatrischen Therapieformen bis zu Interventionen im Operationssaal. Besonders herausfordernd sind Personen mit hoch chronifizierten Schmerzen, die seit Langem leiden und deren Lebensqualität erheblich eingeschränkt ist. Vielleicht haben sie ihre Arbeitsstelle verloren oder die Beziehung ist zerbrochen.

«Einige kommen mit der Erwartung: Machen Sie mir bitte den Schmerz weg, dann habe ich wieder mein früheres Leben», sagt Tim Reck. «Aber das ist nicht möglich.» Damit eine Therapie Erfolg hat, müssen die Patientinnen und Patienten eine emotionale Veränderungsbereitschaft mitbringen. «Das hat nichts mit Resignation zu tun», sagt der Arzt. «Aber man muss akzeptieren, dass der Schmerz da ist. Wer offen ist für das bio-psycho-soziale Modell chronischer Schmerzen, hat die besten Chancen auf eine langfristige Besserung.»

Man sollte sich chronische Schmerzen vorstellen wie eine Figur, die einem beim Autofahren auf dem Schoss sitzt und ständig stört, erklären die Fachleute in Nottwil. Um befreiter zu fahren, muss man versuchen, diese Figur auf den Beifahrersitz zu bekommen. Der nächste Schritt ist ihre Verbannung auf die Rückbank. Dort redet sie zwar noch immer drein, aber weniger laut als vorher. Und irgendwann landet der Schmerz im Kofferraum. Auch dort ist er noch da. Aber wenn wir eine Weile gefahren sind, vergessen wir ihn. Das Bild macht deutlich, wie aufwändig und langwierig diese komplexe Krankheit behandelt werden muss: Ein chronischer Schmerz lässt sich nicht per Knopfdruck oder mit einer Pille heilen. Es braucht über mehrere Phasen hinweg Diagnosen und Therapien, um das Knäuel an Ursachen und Rückkoppelungen langsam aufzulösen.

Die Lebensqualität wiederfinden

Auch Interventionen wie Nervenverödungen oder die Injektionen von Schmerzmitteln an die Wirbelsäule wirken meist nur temporär, sagt Tim Reck: «Mit solchen Massnahmen verschaffen wir den Patientinnen und Patienten ein Zeitfenster, in dem sie mit den anderen Therapien weiterarbeiten können.» Die Behandlung ist dann erfolgreich, wenn sie einen guten Umgang mit dem Schmerz gelernt haben und ihre Lebensqualität wiederfinden. In Nottwil sind die Betroffenen aktiv in die Behandlung eingebunden und müssen selber Verantwortung übernehmen – zum Beispiel, wenn die Physiotherapie ihnen Übungen nach Hause mitgibt, die sie täglich erledigen sollten. Wer seine Hausaufgaben macht und sich produktiv in die Behandlung einbringt, hat gute Chancen, dass sich der Schmerz nach einem halben Jahr im Kofferraum befindet.

Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.

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