Querschnittlähmung & Sexualität
Eine Querschnittlähmung beeinflusst die Sexualfunktion in jeder Hinsicht. Was bedeutet das für die Intimität? Unser Blog liefert spannende Antworten.
Text: Stefan Kaiser
Fotos: Adrian Bär
Illustrationen: Doreen Borsutzki
Hat ein Mensch mit Querschnittlähmung noch Sex? Wie ist das, wenn man nichts mehr spürt? Kann man noch Kinder bekommen? Stephan Freude hat kein Problem, über solche Themen zu sprechen. «Sexualität ist ein wunderbares Geschenk», sagt der Paraplegiker. «Ich liebe die Kraft, Freude und Schönheit, die dadurch entstehen.» Am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil gibt er anderen Betroffenen Kurse, wie sie ihre neue Intimität entdecken können.
Auch Simon Hitzinger spricht offen darüber, wie er nach seiner Rückenmarkverletzung zurück zur Sexualität gefunden hat. «Wenn das Gefühl dort unten weg ist, werden andere erogene Zonen intensiver», sagt der 29-jährige Fotograf aus Basel. Für die Schweizer Paraplegiker-Stiftung gibt er mit der Videoserie «Hitzigram» Einblicke in seine Welt. Er schildert zum Beispiel, wie er nach seinem Unfall befürchtet habe, dass sich sein Liebesleben drastisch ändern werde. Doch in der Rehabilitation sei seine Lebensenergie zurückgekommen – und damit die Lust auf Sex. «Man muss ausprobieren, wie es am besten funktioniert», sagt er. «Die Körperlichkeit ist kein Problem, ich habe einfach keinen üblichen Orgasmus im Sinne einer Ejakulation.»
Der Gesprächsbedarf ist gross
Bis alles so einfach erscheint wie bei Freude und Hitzinger, haben Menschen mit Querschnittlähmung einen langen Weg hinter sich. «Es braucht eine Auseinandersetzung mit sich selbst, dem Selbstwert und der eigenen Identität, damit man mit einem Gegenüber wieder in eine Beziehung treten kann», sagt Julia Neuenschwander. Die Oberärztin der Neuro-Urologie des SPZ hat mehrere sexologische und sexualmedizinische Zusatzausbildungen absolviert. Denn vielerorts werde das Thema in der Urologie nur wenig beachtet, obwohl die betroffenen Menschen einen grossen Gesprächsbedarf haben.
In Nottwil redet man darüber. «Mir ist wichtig, dass die Patientinnen und Patienten wissen: Mit uns kann man auch über Sexualität sprechen», sagt die Oberärztin. Im Rahmen der fachspezifischen Betreuung klärt das Team der Neuro-Urologie den Bedarf an Beratung und Unterstützung ab. Und zusammen mit Fachpersonen aus verschiedenen Therapiebereichen zeigt es den Betroffenen, wie sie auch ohne das gewohnte Körperempfinden ein beglückendes Sexualleben führen können.
Am Ausgangspunkt stehen Fragen wie: Was will die Person wieder erleben? Wie kann sie sich diesem Ziel annähern? Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es? Fragen zum Sexualleben oder der Möglichkeit, Kinder zu bekommen, tauchen bei vielen bereits am Anfang des Klinikaufenthalts auf. Die medizinischen Fakten zu kennen, ist wichtig.
Aber in der Erstrehabilitation stehen so viele andere therapeutische Themen im Fokus, dass die Sexualität von den Betroffenen zum Teil erst später angegangen wird – ein paar Monate nach der Entlassung, wenn sie zur ersten Kontrolle in die Klinik zurückkommen. Dann sind sie in ihrem neuen Leben stabiler verankert und haben vielleicht schon erste Erfahrungen sammeln können.
«Es muss nicht immer 08/15 sein …»
Die Bedürfnisse, die an ihr Team herangetragen werden, sind so individuell und breit wie die Sexualität selbst. Das Ziel der Fachpersonen im SPZ ist es, jeder Patientin, jedem Patienten zu mehr Lebensqualität zu verhelfen. Ihre wohl wichtigste Botschaft lautet: die Fixierung auf das scheinbar «Normale» und dessen Rollenerwartungen zu durchbrechen. «Das würde uns allen guttun», sagt die 34-jährige Oberärztin mit einem Schmunzeln.
«Es muss nicht immer 08/15 sein.» Viele Grenzen existieren nur in unserer Vorstellung. Sexualität ist mehr als Geschlechtsverkehr oder die Klischees aus Pornofilmen. Sie ist vielseitiger. Wer den Zwang zum Leistungssport im Bett überwindet, macht seinen Kopf frei für andere Werte, Ideen und Bilder – und kann damit viel Neues ermöglichen.
Zur Behandlung der verlorenen Sinnesempfindungen der Haut hat sich bisher klinisch keine Therapie etablieren können. Doch die Betroffenen lernen, sexuelle Reize und die sinnliche Befriedigung an anderen Körperstellen als erregend wahrzunehmen, z. B. an den Ohren oder am Nacken. Stellen, an denen viele Nerven vorhanden sind, bieten sich dafür besonders an. Das sexuelle Erlebnis löst sich damit vom starren Fokus auf den Genitalbereich hin zu einer mehr ganzkörperlichen Erfahrung.
Auf dem Weg dorthin braucht es Mut und die Arbeit an sich selbst. Für Menschen mit Querschnittlähmung ist es wichtig, auch zu jenen Körperstellen einen Bezug zu finden, wo sie die zärtliche Berührung nicht spüren. Dies ist Teil eines Prozesses, in dem sie lernen, sich wieder gerne zu haben und attraktiv zu finden. Der Körper wird so angenommen, das er auch von einem Gegenüber geliebt werden kann.
In der Wissensvermittlung der Neuro-Urologie kommt alles zur Sprache. Ein grosses Thema sind Hilfsmittel zur Stärkung der Erektion oder zur Befeuchtung der Scheide. Dafür gibt es heute elegante Lösungen. Zu einer besseren Befeuchtung der Scheide bei Frauen, gibt es zum Beispiel Gleitmittel wie Öle, Vaseline oder Gleitmittel auf Wasser- oder Silikonbasis. Für Männer gibt es u. a. potenzsteigernde Medikamente, wie zum Beispiel Viagra. Ausserdem gibt es Penispumpen oder auch die Möglichkeit einer Schwellkörper-Autonijektions-Therapie (kurz SKAT). Hierbei wird ein Wirkstoff (Alprostadil) in den Penis gespritzt. Die Substanz verteilt sich im Schwellkörper und führt schliesslich zu einer Erektion.
Auch der Kinderwunsch und die Schwangerschaft beschäftigen insbesondere die jüngeren Betroffenen. Querschnittgelähmte Frauen können in den meisten Fällen ohne Probleme schwanger werden und eine normale Schwangerschaft erleben. Sie erkennen Wehen auch ohne Sensibilität und nehmen Ersatzsymptome für die Schmerzen (z. B. Schwitzen, Gänsehaut) wahr. Bei querschnittgelähmten Männern nimmt zwar die Samenqualität ab, sie ist aber häufig ausreichend für eine Vaterschaft. Je nach Spermienqualität ist ein assistierter Samenerguss sowie eine künstliche Befruchtung nötig.
Nebst Kinderwunsch und Schwangerschaft benötigen Betroffene im Bereich der Intimität viele individuelle Informationen zum Umgang mit ihrem querschnittgelähmten Körper, etwa zu den Spastiken oder allfälligen Folgen wie einer Inkontinenz.
Das Geschenk erleben
«Für mich war es ‹learning by doing›», sagt Stephan Freude, der seit einem Motorradunfall vor 26 Jahren im Rollstuhl sitzt. Zunächst war er erleichtert, als ihm die Fachleute sagten, dass er noch Vater werden kann. Und dann gings ans Ausprobieren, sagt er: «Was funktioniert wie? Was dürfen ich und meine Partnerin Neues lernen? Was hilft uns, eine befriedigende Sexualität zu leben?» Der Rollstuhl sei zwar ständig sichtbar, aber seine Persönlichkeit und Ausstrahlung werden von anderen Werten geprägt – und diese Haltung überträgt sich auf das Gegenüber. «Lassen wir es laufen und schauen, was passiert», ist einer seiner typischen Sätze und er sprüht dabei vor Charme. Seine Botschaft: «Das Leben ist nicht fertig, nur weil man im Rollstuhl sitzt. Diesem Hilfsmittel sollte man nicht zu viel Beachtung schenken.»
Auch Stephan Freude legt viel Wert auf die klare Kommunikation zwischen Querschnittgelähmten und Fussgängerinnen und Fussgängern. Oft seien Paare verunsichert, wie sie sich in einer Situation verhalten sollen. Aber was tabuisiert wird, kann man nicht gestalten. In seinen Seminaren inspiriert er die Teilnehmenden, Blockaden zu lösen und mutig zu sein: «Redet über alles. Über eure Bedürfnisse, eure Ängste. Haltet mit nichts zurück – und vor allem: Behaltet euren Humor.» Humor sei ein wichtiger Schlüssel, um Probleme zu lösen und Leichtigkeit ins gemeinsame Leben zu bringen. Dann klappe es auch mit dem Geschenk der Sexualität. «Meine Sexualität ist wunderschön», sagt er. «Weil ich es mir so gemacht habe.»
Erfahren Sie mehr über Stephan Freude und Simon Hitzinger
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