«Solche Eingriffe verändern das Leben»
Dank neuer Methoden können Tetraplegiker ihre Arme und ihre Hände wieder bewegen.
Interview: Niels Jost, Neue Luzerner Zeitung
Erstpublikation: Neue Luzerner Zeitung, 12.11.2018
Jan Fridén ist ein gefragter Mann. Für ein Interview hat er eigentlich gar keine Zeit. Der Termin wird daher mehrere Wochen im Voraus abgemacht. Es überrascht deshalb, wie der Handchirurg an unserem Treffen im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil erscheint: T-Shirt, lässige Trainerhose und Finken. Fridén wirkt charismatisch, entspannt, sein Blick gleichwohl konzentriert. Soeben sei er noch am Operationstisch gestanden, erklärt der Schwede, den Eingriff führen nun aber seine Kollegen der Abteilung Hand- und Tetrahandchirurgie weiter.
Obwohl Fridén gut Deutsch und sogar ein wenig Schweizerdeutsch kann, sprechen wir auf Englisch. So könne er besser erklären, wie es möglich sei, dass Tetraplegiker ihre Arme und ihre Hände wieder eingeschränkt bewegen können – und wieso sich jeder Fünfte gegen eine solche OP entscheide.
Jan Fridén, Sie gelten als Koryphäe in der Tetrahandchirurgie, haben rund 1200 Handrekonstruktionen bei Patienten mit Rückenmarkverletzungen durchgeführt. Weltweit können das nur etwa 30 Chirurgen – obwohl die Methodik schon seit den 1970er-Jahren bekannt ist.
Damals erhielt die Methode zu wenig Aufmerksamkeit. Erst vor etwa zehn Jahren wurde die Nerventransfertechnik wieder aufgenommen und seither ständig weiterentwickelt. Meine Technik ist einzigartig, weil wir es mit nur einem Eingriff schaffen, dass der Patient seine Finger öffnen und wieder schliessen kann, ohne dabei die ursprünglichen Muskeln oder Sehnen zu benutzen. Dies, indem wir die Muskeln oder Nerven an eine andere Position platzieren.
Welche Patienten betreuen Sie und Ihr sechsköpfiges Team am SPZ?
Zu uns kommen vor allem Personen mit Verletzungen des Rückenmarks, aber auch des Gehirns. Personen, die keine oder limitierte Arm- und Handfunktionen haben. Egal, ob dies auf einen Unfall, eine Krankheit oder eine Infektion zurückzuführen ist: Wir ermöglichen es, die Funktionen der Hand ganz oder teilweise zurückzuerlangen. Dabei gibt es drei operative Methoden: Wir verlagern entweder Muskeln, Sehnen oder Nerven und fügen sie neu zusammen.
Wie funktioniert das?
Welche Methode wir anwenden, ist abhängig davon, wie hoch das Rückenmark beschädigt ist. Ist die Lähmung verhältnismässig tief, kommt beispielsweise ein Muskeltransfer in Frage. Dabei verlagern wir einen intakten Muskel vom Ober- oder Unterarm an eine Stelle, wo er zentrale Funktionen übernehmen kann, wie das Biegen der Finger oder das Schliessen und Öffnen der Faust.
Das heisst, Muskeln von Tetraplegikern sind zwar gelähmt, aber noch intakt?
Die Muskeln sind voll funktionstüchtig. Sie brauchen lediglich einen Impuls. Dafür schneiden wir einen intakten Nerv ab und setzen ihn am nicht funktionierenden Nerv ein. Der Nerv wächst dann wieder – bis zu einem Millimeter am Tag! Wir sorgen dafür, dass der wachsende Nerv den Zielmuskel findet, welcher wiederum die erwähnten Handfunktionen ermöglicht.
Das Interview wird unterbrochen. Fridéns Handy klingelt. «Das ist die OP-Station, da muss ich schnell ran», sagt er. Einige Ratschläge später konzentriert er sich wieder aufs Gespräch, sagt aber: «In 30 Minuten muss ich wieder im OP-Saal sein, geht das?»
Wie lange dauert eine OP?
Fünf bis sechs Stunden. Damit ist es aber längst nicht getan.
Wie meinen Sie das?
Nach dieser komplizierten Operation müssen die Patienten bis zu drei Monate im SPZ bleiben und danach mehrere Monate im ambulanten Bereich trainieren. Sprich: Weg von daheim, wieder zurück in die Klinik. Das ist der Hauptgrund, wieso etwa jeder Fünfte eine Operation ablehnt.
Wie lange dauert denn der Reha-Prozess?
Der Patient muss all seine Arm- und Handfunktionen wieder neu erlernen. Das dauert bis zu 12 Monate – und das ist harte Arbeit. Denn selbst für simple Handlungen im Alltag sind die Bewegungsabläufe äusserst komplex. Will man beispielsweise ein Glas hochheben, muss man ja zunächst den Arm strecken können, dann die Hand öffnen, das Glas mit genügend Druck festhalten und schliesslich das Glas wieder abstellen. Das erfordert viel Timing und Balance.
Ist Ihre Methode immer erfolgreich?
Ist jemand nicht gewillt, sich dem Lernprozess zu stellen, nützt auch die OP nichts. Wir machen aber vor jedem Eingriff Tests und eine Prognose, welche Funktionen der Patient wiedererlangen wird. Eine 100-prozentige Wiedererlangung der Fähigkeiten ist zwar kaum möglich, aber in jedem Fall erzielen wir eine Verbesserung.
Das heisst?
Wer seine Hände wieder bewegen kann, erhält enorme Lebensqualität zurück. Sei es, wenn man jemandem die Hände schütteln oder jemanden umarmen kann oder auch für die Kommunikation, etwa mit dem Handy. Zudem können die Patienten ihren Rollstuhl selber bewegen. Solche Eingriffe verändern das ganze Leben des Patienten und das seines Umfelds. Das motiviert mich tagtäglich, zur Arbeit zu gehen.
Zahlt die Versicherung den Eingriff?
Ja, aber wir müssen den Versicherungen genau aufzeigen, welche Fähigkeiten der Patient zurückerlangen wird. Aber nur schon, wenn sich jemand wieder eigenständig anziehen kann, entlastet dies das Gesundheitssystem auf lange Sicht.
Kürzlich war in den Medien zu lesen, dass ein Paraplegiker dank einer ETH-Therapie wieder laufen kann. Ginge das auch mit Ihrer Methode?
Nein. Die Beine tragen das ganze Körpergewicht. So viel Muskelmasse können wir aktuell nicht durch Muskel- oder Nerven- übertragungstechniken reani- mieren.
Trotzdem: Der modernen Medizin scheinen keine Grenzen gesetzt. Wie weit soll das noch gehen? Spielen bei Ihrer Arbeit auch ethische Grundsätze eine Rolle?
Natürlich. Aber ich frage mich vielmehr, wie ich möglichst vielen Menschen den Zugang zu solch modernen Methoden ermöglichen kann. Diese gibt es weltweit nur etwa in 15 Ländern. Gut wäre, wenn es viel mehr wären.
Sie sind erst seit 2011 am SPZ, vorher leiteten Sie das Zentrum für Tetrahandchirurgie am Universitätsspital in Göteborg, Ihrer Heimat. Wieso der Wechsel nach Nottwil?
Das Kompetenzzentrum mit der Abteilung für Handchirurgie in Nottwil ist einzigartig in Europa. Unser Team besteht nicht nur aus Chirurgen, sondern auch aus Physio- und Ergotherapeuten, einem Forscher und Doktoranden.
Nach 60 Minuten ist das Interview vorbei. Fridén bleiben nur noch 5 Minuten für den Fototermin. «Dann muss ich in den OP-Saal.»
Der Schwede Jan Fridén arbeitet seit 2011 am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, seit zweieinhalb Jahren ist er Leiter Handchirurgie. Im August dieses Jahres organisierte er den Tetrahandweltkongress in Nottwil, zudem hat er über 200 Artikel in internationalen Fachzeitschriften publiziert.
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