Zoe Frei sitzt an ihrem Pult

«Ein ganz normaler Teenager – trotz Rollstuhl»

Während des Schulunterrichts verspürte Zoe Frei leichte Schmerzen im rechten Unterschenkel. Das Ziehen im Bein wurde aber immer stärker. Was sich anfühlte wie Muskelkater, war aber eine Blutung im Rückenmark. Seither sitzt die 12-Jährige im Rollstuhl. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) absolviert sie eine Kurzrehabilitation und lernt innert kürzester Zeit das Rollstuhlfahren.

 

Text: Elias Bricker
Bilder: Beatrice Felder

 

«Ich will anderen Mut machen», sagt Zoe Frei aus St. Gallen keck. «Ich bin trotz Rollstuhl ein ganz normales Mädchen, deshalb erzähle ich meine Geschichte.» Mit einem kräftigen Ruck hievt sich die Zwölfjährige aus dem Rollstuhl aufs Bettsofa im Wohnzimmer und streichelt ihrem Kater Onix sanft über den Kopf. «Angefangen hat alles am Samstag, 17. Dezember 2016», beginnt Zoe. «Also eigentlich schon am Freitag.» Während des Schulunterrichts verspürte sie leichte Schmerzen im rechten Unterschenkel: «Es fühlte sich an wie Muskelkater.» Nichts Aussergewöhnliches für das quirlige Mädchen, das gerade erst mit ihrer Hip-Hop-Tanzgruppe an den Schweizer Meisterschaften teilgenommen hatte und sich auf ein Handballturnier am Wochenende freute. Doch das Ziehen im Bein wurde immer stärker.

 

«Mami, du musst nicht weinen, ich sterbe nicht.»

Weihnachten im Spital

Am Samstag bekam die damals Zehnjährige stechende Rückenschmerzen, die ihr den Schlaf raubten. Weil es beim Gehen weniger wehtat, ging sie mit ihrem Vater mitten in der Nacht spazieren. Doch die Schmerzen wurden so stark, dass sie notfallmässig ins Spital musste. «Die Schmerzmittel nutzten nichts», sagt Zoe. Sie kann kaum mehr gehen, bekommt steife Beine. Irgendwann knickt sie ein. Die Beine tragen nicht mehr. «An diesem Tag hätte ich am Handballturnier gespielt», meint Zoe lakonisch. Die Fachärzte im Spital sind zuerst ratlos, vermuten einen Tumor an der Wirbelsäule. Erst nach mehreren Untersuchungen steht die Diagnose fest: eingeblutetes kavernöses Angiom. Zoe hat ein Blutgerinnsel, ähnlich wie bei einem Schlaganfall, aber im Rückenmark. Diese Blutung drückt auf die Nerven. Seither ist Zoe vom Bauchnabel abwärts komplett gelähmt. Zum Zeitpunkt der Diagnose ist unklar, wie sich die Lähmung entwickeln wird. «Ich dachte immer positiv», sagt Zoe. «Meine Mutter hat viel geweint, deshalb sagte ich ihr: ‹Mami, du musst nicht weinen, ich sterbe nicht.›» Weihnachten 2016 verbringt Zoe im Spital. «Wir wohnen zum Glück mitten in der Stadt und auch die Schule ist nur zwei Minuten Fussweg vom Spital entfernt», sagt ihre Mutter, Florence Frei. So bekommt Zoe oft Besuch von ihren Freundinnen. Und die Lehrerin habe mit ihr am Spitalbett gebastelt, um ihr die Zeit erträglicher zu machen.

Zoe Frei malt in ihrem Zimmer
Zoe Frei mit ihrer Katze Onix

Reha in den eigenen vier Wänden

Nach einer Operation am Rücken und drei Wochen Spitalaufenthalt wird Zoe in eine andere Klinik verlegt. «Dort fühlte ich mich aber nicht besonders wohl», erinnert sich die Schülerin. Die Klinik entsprach auch nicht Zoes Therapiebedürfnissen. Die Grossmutter, die in der Pflege arbeitet und das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) kennt, organisiert, dass Zoe nach Nottwil kann. «Dort fühlten wir uns sofort gut aufgehoben», sagt die Mutter. Zoe verbringt drei Wochen am SPZ – zusammen mit ihrem Vater. In Nottwil absolviert sie eine Kurzrehabilitation mit intensivem Therapieprogramm und Trainings, in denen sie innert kürzester Zeit das Rollstuhlfahren lernt. Üblicherweise bleiben Paraplegiker rund ein halbes Jahr zur Rehabilitation in Nottwil. Auch für den Vater ist der Aufenthalt in Nottwil wichtig. «Ich hatte ganz viele Fragen und Ängste», erinnert sich Simon Frei. Am SPZ erhält er viele Antworten und kann sich mit anderen Betroffenen und ihren Angehörigen austauschen. «Das tat mir gut.» Er sei überrascht gewesen von der guten Stimmung im Haus und der positiven Lebenseinstellung der anderen Patienten, die von einer Querschnittlähmung betroffen sind: «Man merkt in Nottwil kaum, dass man in einem Spital ist.»

Weil Zoe mitten in St. Gallen wohnt und ein vielseitiges Therapieangebot in der Umgebung vorfindet, weil sich zudem viele Therapeuten bereit erklären, sie zu Hause zu behandeln, kann das Mädchen bald wieder bei der Familie wohnen. Für Zoe, die Eltern und ihre Schwester Nia ist dieser Schritt sehr wertvoll, aber mit grossem Aufwand verbunden. Anfänglich besucht sie rund zwei Stunden den Schulunterricht, der restliche Tag ist mit Therapien ausgefüllt. Weil das Duschen im Rollstuhl zu Hause noch unmöglich ist, besucht Zoe zweimal wöchentlich eine spezialisierte Institution mit behindertengerechten Duschen.

«Das war eine kräfteraubende Zeit», sagt Florence Frei. Sie und ihr Mann hätten während einem halben Jahr kaum gearbeitet. Verständnisvolle Arbeitgeber machten dies möglich. «Wir waren voll für unsere Tochter da, denn Zoe hat praktisch die ganze Reha zu Hause absolviert. Dabei mussten aufwändige Abklärungen getroffen werden, sowohl aus gesundheitlicher wie aus finanzieller Sicht.» Die Familie Frei wird dabei von ParaHelp unterstützt und beraten, einer Tochtergesellschaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Auch die Grossmutter sei eine grosse Stütze gewesen. «Sonst konnte uns kaum jemand entlasten», sagt Florence Frei, «denn wir mussten alle pflegerischen Handgriffe selber lernen – zum Beispiel das Katheterisieren oder das richtige Lagern.»

Rückkehr in den Alltag als Querschnittgelähmte

Die Lehrerin und ihre Freundinnen besuchen Zoe oft. Einmal legen Nachbarn im Garten mit Kerzen ein Herz in den Schnee. Eine St. Galler Band organisiert ein Benefizkonzert und Zoes Hip-Hop-Gruppe tanzt. «Dabei kannten wir die Bandmitglieder davor gar nicht!», sagt die Mutter. «Doch das Schicksal von Zoe hat die Leute in der Umgebung stark beschäftigt. Es war eine grosse Solidarität zu spüren, das war schön.»

Damit Zoe ihren Alltag meistern kann, werden Umbauarbeiten unumgänglich. «In unserer Wohnung gab es diverse Hindernisse für einen Rollstuhl», sagt Florence Frei. «Immerhin leben wir in einer Parterrewohnung und haben einen Lift. Sonst wäre es schwierig gewesen.» Ein Vertreter des Zentrums für hindernisfreies Bauen der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung berät die Familie bei der Planung des Umbaus. Schliesslich bricht man eine Wand ein, um aus dem Badezimmer und dem engen WC einen grosszügigen Raum zu machen, damit Zoe mit ihrem Rollstuhl zur Toilette fahren kann. Sie benötigt auch eine neue Dusche und ein behindertengerechtes WC. Zudem erhält sie eine Rampe, um vom Wohnzimmer über die zwei Treppenstufen in den Garten zu gelangen.

Für diese Umbauarbeit erhält die Familie finanzielle Unterstützung aus dem Direkthilfefonds der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Auch Zoes Schulhaus erhält eine Rollstuhlrampe – ohne dass die Freis davon etwas wussten. «Die Schule hat uns unterstützt, wo es nur ging», sagt Florence Frei. «Das ist alles andere als selbstverständlich. » Die Lehrerin ist darauf bedacht, dass das Mädchen den Anschluss an den obligatorischen Schulstoff nicht verliert. Als Zoe im Sommer 2017 wieder voll zur Schule gehen kann, setzt die Lehrerin alles daran, dass sie mit ihrer Klasse zusammen ins Schullager fahren kann. Die Mutter begleitet sie.

«Zoes Schicksal beschäftigte die Leute in der Umgebung. Es war eine grosse Solidarität zu spüren.»

Ihre Kreativität ausleben

Mit dem SPZ bleibt Zoe nach wie vor eng verbunden und nutzt regelmässig das breite Therapieangebot. Zwei Mal nahm sie schon an der Jugend-Reha teil – einem Sommerlager mit intensiven Therapieblöcken. In Nottwil lernt sie andere junge Rollstuhlfahrer kennen, mit denen sie eine gute Freundschaft pflegt. «Doch leider habe ich bis jetzt nie jemanden getroffen, der das Gleiche erlebt hat wie ich.» Seit dem Vorfall vor zwei Jahren hat sich der Alltag der Familie Frei neu eingependelt, auch wenn Zoe immer wieder Hilfe von anderen benötigt. Diesen Herbst verbrachten sie die ersten gemeinsamen Ferien am Meer. Und im Winter testete Zoe zum ersten Mal Monoski. Das selbstbewusste Mädchen lässt sich vom Rollstuhl nicht bremsen – im Gegenteil. «Manchmal darf ich gar nicht hinschauen, in welchem Affenzahn meine Tochter durch die steilen Strassen in St. Gallen saust», sagt die Mutter. «Aber ich muss sie machen lassen. Sie ist ein ganz normaler Teenager, die mit ihren Kolleginnen auch mal in die Stadt etwas trinken geht. Da muss ich als Mutter nicht immer alles wissen …»

 

Seit Anfang Schuljahr macht Zoe wieder bei ihrer früheren Hip-Hop-Tanzgruppe mit. «Zoe blüht beim Tanzen richtig auf», sagt Florence Frei. Beim wöchentlichen Training rollt sie mit ihrem Rollstuhl auf dem Parkett hin und her – nach links, nach rechts, im Kreis. Dann kippt sie ihr Fahrgestell. «Seit Zoe wieder da ist, versuche ich, mehr Elemente mit den Armen einzubauen», sagt Tanzlehrerin Ramona Steiner. Und ergänzt: «Es ist schön, dass sie wieder bei uns ist!» Im Herbst 2019 wird Zoe in die Oberstufe wechseln. Bereits heute hat sie klare Berufsvorstellungen: «Ich möchte Lehrerin werden!», sagt sie. «Oder vielleicht doch Handarbeitslehrerin.» Denn die junge St. Gallerin ist äusserst kreativ. Sie backt und zeichnet, bastelt und näht. Seit einiger Zeit hat sie eine eigene Nähmaschine – mit Handsteuerung. Und kürzlich erhielt sie einen ersten Auftrag, um für ein Geschäft Visitenkarten zu kreieren. «Wie es ohne Rollstuhl wäre, daran denke ich nur noch selten», sagt Zoe. «Ich versuche einfach, das Beste aus meiner Situation zu machen.» Mit ihrer unbekümmerten Art macht Zoe nicht nur sich, sondern allen Menschen Mut, die ihre Geschichte hören.

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