Ein Ausbruch mit Folgen
Der Sturz in die Tiefe
Es ist Samstagabend in Disentis (GR). Chiara Schlatter macht sich für den Ausgang bereit. Die 16-jährige lebt in einem Internat, das auf katholischen Grundwerten basiert. Chiara hat sich für das Internat entschieden, da ihr der Glaube sehr viel bedeutet.
Für den Ausgang, muss man sich anmelden. Doch was, wenn man sich kurzfristig umentscheidet, wie Chiara, an diesem kühlen Samstagabend? Kreativität ist gefragt. Ihr Zimmer befindet sich im zweiten Stock in einem Nebengebäude. Die Türen sind verschlossen und so entscheidet sich Chiara, zu improvisieren. Sie packt ihr Bettlaken und befestigt es an ihrem Fenster. Sie klettert aus dem Fenster und versucht, an ihrer Konstruktion entlang auf den Boden zu gelangen.
Plötzlich reisst das Bettlaken unter ihrem Gewicht. Die junge Bernerin stürzt sieben Meter in die Tiefe und schlägt mit dem Kopf auf einer Steintreppe auf. Regungslos bleibt sie in der kalten, dunklen Nacht liegen. Die Strassen sind menschenleer. Weit und breit ist keine Hilfe in Sicht.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Ihr «Ausgangs-Kollege» Simon, ebenfalls aus dem Internat, wartet am vereinbarten Treffpunkt auf Chiara. Die Minuten verstreichen. Chiara taucht nicht auf. Auch die Nachrichten an sie bleiben unbeantwortet. Ein mulmiges Gefühlt breitet sich in Simon aus und er entscheidet sich, nach Chiara zu suchen.
Simon schleicht durch die dunklen Gassen, der Wind raschelt in den Bäumen. Er biegt um die Ecke und sieht einen leblosen Körper auf einer Treppe liegen. Er rennt hin und erkennt Chiara. Sie liegt in einer Blutlache am Boden. Entsetzen erfasst ihn. Er ruft ihren Namen - immer und immer wieder. Simon befürchtet bereits das schlimmste, da reisst Chiara plötzlich die Augen auf. Sie kann sich nicht bewegen. Panisch schreit sie ihn an: «Hilf mir auf!».
Simon handelt geistesgegenwärtig und bewegt Chiara keinen Millimeter. Er ahnt, dass jede noch so kleine Bewegung gravierende Folgen haben könnte. Stattdessen spricht er leise mit Chiara und versucht sie zu beruhigen. Chiaras Leben hängt in diesem Moment an einem seidenen Faden. Das Warten auf die Ambulanz ist ein Wettlauf gegen die Zeit - jede Sekunde zählt.
«Ich lebe noch!»
Die Ambulanz bringt Chiara ins Spital in Chur, wo die Ärztinnen und Ärzte sogleich eine Notoperation einleiten. Es zeigt sich, dass Chiara beim Sturz aus dem zweiten Stockwerk lebensgefährlich verletzt wurde: Sie erleidet einen Schädelbasisbruch, ein Hirnödem und eine Querschnittlähmung.
Chiara wird in Chur stabilisiert und wird am nächsten Tag mit dem Helikopter auf die Intensivstation des Schweizer Paraplegiker-Zentrums geflogen. Drei lange Tage später wacht sie auf. «Mein erster Gedanke war: Ich lebe noch und die Sonne scheint. Was für ein Glück ich doch hatte.» An diesem kühlen Samstagabend im April hatte Chiara einen Schutzengel, der Simon heisst. Er hat ihr das Leben gerettet.
Auch die Erleichterung in der Familie ist spürbar, als Chiara endlich die Augen öffnet und klar wird, dass sie keine bleibenden Hirnschäden erlitten hat.
Im ersten Moment überwiegt bei allen die Dankbarkeit, dass Chiara ihren schweren Unfall überlebt hat. Dass Chiara jedoch querschnittgelähmt ist und ihr Leben künftig im Rollstuhl verbringen wird, rückt erst allmählich ins Bewusstsein.
Wie Chiara und ihre Familie mit dieser Diagnose umgehen und welche Hindernisse sich ihnen in den Weg stellen, erfahren Sie im nächsten Teil.