Virtuelles Gehen gegen chronische Schmerzen
Der Wunsch nach Schmerzlinderung kommt bei Menschen mit Querschnittlähmung oft vor dem Wunsch, wieder gehen zu können. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Virtual Walking» geht dafür innovative Wege.
Text: Christa Bray
Bilder: Adrian Bär
Schmerzen diktieren den Alltag von vielen Menschen mit einer Querschnittlähmung. Drei Viertel erleben sie als einschränkender als die körperliche Behinderung. Da Therapien nur selten zum gewünschten Erfolg führen, werden die andauernden Schmerzen schnell zu einer enormen Belastung.
So auch bei Marc Elmer, den schlimme Fussschmerzen quälen. Der 32-jährige Glarner ist seit einem Gleitschirmunfall im Mai 2017 querschnittgelähmt. Seine Schmerzen wurden immer intensiver. «Es ist einerseits ein dumpfer Dauerschmerz in den Füssen, andererseits sind es spitze Schmerzen, die bis in die Unterschenkel ausstrahlen», erzählt der passionierte Badmintonspieler. Man muss sich das vorstellen wie schlimme Zahnschmerzen: Der Schmerz ist brennend, einschiessend oder elektrisierend und fast nicht auszuhalten. Oft haben die Betroffenen einen jahrelangen Leidensweg mit vielen Therapieversuchen und wirkungslosen Medikamenten hinter sich. Marc Elmer haben die Schmerzen sogar gezwungen, seine Umschulung vom gelernten Polier zum Bauführer abzubrechen.
Fehlermeldung im Gehirn
Bei einer plötzlich eintretenden Querschnittlähmung haben die Betroffenen keine Möglichkeit, ihre Körperwahrnehmung schnell genug auf die neue Situation einzustellen. Das Gehirn erhält dadurch widersprüchliche Informationen: Es sieht zwar die Beine, aber spürt sie nicht. André Ljutow, ehemaliger Chefarzt vom Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil, erklärt: «Bei einer Querschnittlähmung verändert sich der Informationsfluss so rasant, dass dem Gehirn kaum Anpassungszeit bleibt. Plötzlich stimmen die erlebten und die gefühlten Sinneseindrücke nicht mehr überein.» Die Informationen schiessen wild durcheinander. Die sichtbaren Beine reagieren nicht auf Reize, aus den betroffenen Regionen fehlen Sinneseindrücke, Schaltstellen in den Nervenbahnen melden ungewohnte Signale. Das Gehirn sucht vergeblich nach Orientierung, es gerät in eine Schlaufe und reagiert wie ein abgestürzter Computer mit einer Fehlermeldung. Dieser Alarm kann sich als Schmerz äussern – verortet in Körperbereichen, die der Patient gar nicht mehr spüren kann.
Das Gehirn muss also ausgetrickst werden, damit es aus seiner Schlaufe herausfindet. Die Idee des «Virtual Walking» stützt sich dabei auf die seit rund zwanzig Jahren bei Phantomschmerzen nach Amputationen angewandte Spiegeltherapie: Mithilfe eines vorgetäuschten Gehens wird das Gehirn langsam an die neue Realität herangeführt. Die Patientinnen und Patienten sitzen zwar in einem Stuhl, aber sie sehen sich in der Therapie auf einem Grossbildschirm gehen. Ihr Oberkörper wird live gefilmt und täuschend echt auf fremden Beinen in einem Video positioniert. So entsteht im Gehirn die Illusion, dass sie selber wieder gehen können. «Unsere Arbeitshypothese ist, dass dieses visuelle Gehen die Nichtübereinstimmung der motorischen Befehle und der sensorischen Rückmeldungen zu korrigieren vermag», so Ljutow.
Tatsächlich nahm die Schmerzintensität bei Marc Elmer seit Therapiebeginn langsam aber stetig ab. Seine Schmerzspitzen sind verschwunden und der Dauerschmerz ist weniger dominant. Erleichtert erzählt er, dass er seinem Alltag wieder nachgehen kann – mit intensiven Trainings im Parabadminton und einer neuen Ausbildung zum Kaufmann.
Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern
Für das «Virtual Walking» liessen sich die Schmerzexpertinnen und -experten des Schweizer Paraplegiker-Zentrums vom Neurowissenschaftler Lorimer Moseley inspirieren, der 2007 an der Universität Oxford erste Experimente mit einer einfachen Filmprojektion machte. Die Idee wurde damals nicht weiterverfolgt, weil die technischen Möglichkeiten zu eingeschränkt waren. Dank Fortschritten in der Computertechnologie kann den Patientinnen und Patienten heute eine sehr viel realistischere Simulation geboten werden. Der ehemalige Chefarzt Ljutow geht davon aus, dass die Wirkung umso besser wird, je näher das virtuelle Gehen an das tatsächliche Geherlebnis herankommt.
Dieses technologische Wissen bringt die Hochschule Luzern in die Projektpartnerschaft ein. Studierende des Instituts für Medizintechnik rund um Professor Roger Abächerli entwickeln die nötige Software für die Steuerungscomputer. Ein interdisziplinäres Team erarbeitet die detailgenaue Übereinstimmung der verschiedenen Bildebenen: Der Hintergrund, die gehenden Beine, der Körper der Betroffenen, die Blickwinkel. Zudem bewegt sich die Fläche des Stuhls, auf dem die Patientinnen und Patienten sitzen, genau gleich wie das Becken der Person, die sie im Video sehen. So fliessen Bewegungsimpulse in ihre Körperwahrnehmung mit ein und verstärken die Illusion. Anhand dieser Illusion soll das Gehirn behutsam an die Situation eines Menschen mit Querschnittlähmung herangeführt werden.
Weites Anwendungsfeld
Der Therapieansatz kann aber nicht nur bei einer Amputation oder Querschnittlähmung schmerzlindernd wirken, sondern ist auch bei Schlaganfällen, Verletzungen mit Nervendurchtrennungen oder Entzündungen von Nerven eine mögliche Therapieform. «Unser Forschungsprojekt zielt darauf ab, die Anwendung sowohl technisch wie auch im klinischen Einsatz weiterzuentwickeln», sagt André Ljutow. «Zudem erarbeiten wir Behandlungstechniken für ähnliche Krankheitsbilder, standardisieren sie und bereiten sie auf für die Weitergabe im Rahmen von Schulungen und Zusatzausbildungen.»
Noch steckt das Projekt in der Anfangsphase. Der erste Prototyp in Nottwil, von dem auch Marc Elmer profitiert, ist aber schon jetzt weltweit einzigartig.
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