«Die Beziehung zu beenden, kam für mich nie in Frage»
Alexandra Burkart war 24, als ihr Freund Roland nach zwei Monaten Beziehung aus 10 Meter Höhe in einen Lichtschacht stürzte und dadurch zum Tetraplegiker wurde. Wie hat Alexandra diesen heftigen Einschnitt in die Beziehung bewältigt?
Originalartikel: Anouk Holthuizen, im November 2017
Erstpublikation: familienleben.ch
Bilder: Alexandra Burkart
Alexandra Burkart, Sie sind sogenannte Angehörigen-Peer im Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Was tun Sie dort genau?
Ich suche das Gespräch mit Angehörigen, deren Partner oder Kind durch einen Unfall querschnittgelähmt wurde und auf einen Rollstuhl angewiesen ist. In so einem Moment nimmt ja nicht nur das Leben des Verunfallten eine 180-Grad-Wende, sondern auch das der Personen, die mit ihm leben. Ich versuche, Ihnen die Angst vor der Zukunft zu nehmen, vor der Verantwortung, die sie tragen, wenn ihr Partner oder Kind mit einer starken körperlichen Beeinträchtigung vom Zentrum nach Hause zurückkehrt. Ich erzähle ihnen, wie es daheim sein wird, was sie alles erwartet. Und ich gebe praktische Tipps.
Dabei schöpfen Sie aus der eigenen Erfahrung. Vor zehn Jahren verliebten Sie sich in einen Mann, der zwei Monate nach dem ersten Kuss durch einen Unfall zum Tetraplegiker wurde. Wie gingen Sie mit diesem Donnerschlag um?
Ich funktionierte wie ein Roboter. Nach der Arbeit und an freien Tagen war ich ständig bei ihm. Er war erst zwei Wochen im Koma, und ich war natürlich in grosser Sorge. Als er erwachte, war ich einfach froh, dass er wieder bei Bewusstsein war. Und ich wollte alles wissen: Wie sich sein Zustand weiterentwickeln wird, was möglich ist, wie ich ihn unterstützen kann.
Sie waren erst 24. Haben Sie nicht mit Ihrem Schicksal gehadert?
Nein im Gegenteil. Ich zweifelte keinen Moment, dass ich mit Roland zusammenbleiben will. Natürlich hatte ich schwere Momente und wusste manchmal nicht, ob ich genügend Kraft für all das habe. Ich freute mich, wenn etwas ging und bekam Angst, wenn etwas nicht ging. Aber die Beziehung zu beenden kam für mich nie in Frage. Bei anderen betroffenen Paaren erlebe ich das schon.
Es gibt Frauen und Männer, die vor Angst, das nicht packen zu können, aus der Situation flüchten. Aber nicht nur die gesunden Partner, sondern auch jene im Rollstuhl. Es gibt Männer, die sich durch diese Lähmung nicht mehr männlich fühlen. Ich litt in den ersten Monaten am meisten darunter, dass wir so wenig Zeit zu zweit hatten, wir waren ja erst zwei Monate zusammen gewesen vor dem Unfall. Immer war Besuch oder Pflegepersonal da. Das war sehr hart.
Wann stiessen Sie an Grenzen?
In den ersten Wochen, nachdem Roland die Klinik verlassen hatte. Er wohnte wieder mit seinem Bruder in Luzern zusammen, ich begann damals eine neue Ausbildung und lebte in Bern. Wir machten als erstes einen Kurztrip nach Dublin. Da realisierte ich, wie schwierig alles ist.
Was genau war schwierig?
Er hatte noch keine elektrische Rollstuhlunterstützung, ich musste ihn die ganze Zeit stossen, und überall gab es Schwellen. Auch half ich ihm beim Darm entleeren, transferierte ihn ins Bett und machte die Morgenpflege. Das war enorm streng. Damals mussten wir uns auch dran gewöhnen, dass man wegen des Rollstuhls vermehrt angestarrt wird. Das ermüdet, und ich verstehe, wenn sich Leute dann zurückziehen aus dem öffentlichen Leben. Aber man muss genau darum hinausgehen. Und heute kennen wir natürlich alle Tücken und Tricks.
Wo bekamen Sie in dieser schweren Zeit Unterstützung?
In Nottwil sprachen wir mit anderen Betroffenen. Auch gingen wir zusammen in eine psychologische Beratung. Aber nicht, weil wir als Paar in der Krise waren, sondern weil ich, als es Roland besser ging, plötzlich wahnsinnig Angst hatte, dass ihm nochmals etwas zustossen würde, etwas viel Schlimmeres. Ich hatte Angst, dass er stirbt.
In einer Situation, wo ein Partner pflegebedürftig wird, gerät die Selbstbestimmung auf beiden Seiten aus dem Gleichgewicht. War das auch für Sie ein Stolperstein?
Da eine Balance zu finden ist ein langer Prozess, der bis heute anhält. Wir achten sehr darauf, dass beide etwas für den anderen tun.
Wie teilen Sie sich auf?
Er macht zum Beispiel alles rund ums Büro, Rechnungen, Steuern, Dinge, um die ich mich sowieso nicht gern kümmere. Ich mache das Pflegerische und koche. Wenn mir beim Essenzubereiten eine Zutat fehlt, holt er sie. Manche Dinge kann er nur langsam machen, aber da warte ich einfach. Dennoch ist das immer wieder ein Thema für uns, das müssen wir immer wieder austarieren.
Die Gefahr ist gross, dass ein Machtgefälle entsteht.
Bei vielen Paaren, oder auch zwischen Eltern und einem gelähmten Kind, ist die Gefahr von Bevormundung gross. Doch das Ziel sollte auf allen Seiten die grösstmögliche Autonomie sein. Sie ist nicht nur zum Schutz der Beziehung wichtig, sondern auch aus praktischen Gründen: Jemand im Rollstuhl muss handeln können, wenn der Partner mal plötzlich nicht da ist. Bei älteren Leuten sehe ich oft, dass der eine Partner alles übernimmt. Das kann funktionieren, aber es kann auch sehr ungut werden. Bei jüngeren Betroffenen geschieht das nicht so selbstverständlich. Mein Partner und ich sind uns gewohnt, nicht alles alleine stemmen zu müssen, für uns ist zum Beispiel die Unterstützung durch die Spitex selbstverständlich.
Kann man denn, wenn man selbst Pflegerfahrung hat, entspannt Arbeit an die Spitex delegieren?
Das finde ich nicht immer einfach. Da die Spitex auch die Körperpflege macht, entsteht eine Intimität. Bei der Spitex arbeiten ja fast nur Frauen, sie sind dann mit meinem Partner im Bad. Da muss ich drüberstehen können, ich gehe darum auch am liebsten aus der Wohnung oder zumindest in ein anderes Zimmer.
Das klingt nach Konfliktpotential...
Als ich noch jünger war, hatte ich viel mehr Mühe damit, heute gehe ich relativ gelassen damit um. Eine Frau der Spitex mischte sich aber anfangs tatsächlich zu stark in unser Leben ein. Sie brachte Roland Geschenke mit und begann, Sachen vorzuschreiben. Solche Situationen zwingen uns, die Probleme rasch anzusprechen und Lösungen zu finden. Anfangs waren wir eher konfliktscheu.
Können Sie ohne schlechtes Gewissen Unternehmungen geniessen, bei denen Ihr Partner nicht dabei sein kann? Etwa Skifahren?
Zum Glück fahre ich nicht gern Ski (lacht). Aber ja, ich kann auch Zeiten ohne Roland geniessen. Ich gehe regelmässig mit Freundinnen weg, auch mal in ein Wellnesshotel. Das ist für ihn völlig in Ordnung, er geniesst es auch, die Wohnung mal für sich allein zu haben. Man braucht ja sowieso in einer Beziehung Zeit für sich, Distanz kann die Beziehung beleben, das gilt auch für Paare, wo ein Partner körperlich eingeschränkt ist. Ich kenne aber auch sehr ängstlichere Paare. Viele Partner von Querschnittgelähmten verzichten auf sehr vieles, weil sie sich sonst schlecht dabei fühlen. Doch damit tun sie niemandem einen Gefallen.
Inzwischen sind Sie zehn Jahre zusammen. Welches waren die Höhepunkte in Ihrer Beziehung?
Sechs Monate nach dem Unfall konnte Roland mich zum ersten Mal wieder umarmen. Das war ein wahnsinnig schöner Moment. Am 1. Jahrestag unserer Beziehung gingen wir in jene Bar, in der wir uns zum ersten Mal geküsst hatten, auch das war wunderbar. Und als Roland mich zum ersten Mal von der Arbeit in Bern abholte und den ganzen Weg alleine zurückgelegt hatte. Und natürlich war unsere Hochzeit vor einem Jahr ein Höhepunkt. Wir haben immer wieder Glücksmomente. Vielleicht sogar mehr als andere, weil wir vieles sehr bewusst geniessen können. Und ich freue mich immer wieder, dass ich das alles gepackt habe, dass ich das kann.
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Traurig, aber wahr: Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt. Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Damit Betroffene nicht zusätzlich von Geldsorgen geplagt werden, erhalten Mitglieder bei einer unfallbedingten Querschnittlähmung mit permanenter Rollstuhlabhängigkeit eine einmalige Zahlung von CHF 250'000.–.
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