Schultergesundheit und Mobilität
Da Menschen mit Querschnittlähmung (QSL) im Alltag auf ihre oberen Extremitäten angewiesen sind, werden die Schultern häufig stark mechanisch belastet. Dadurch besteht ein erhöhtes Risiko für eine Überlastung des Gewebes und für Schulterbeschwerden, was wiederum die Funktionsfähigkeit, Teilhabe und Lebensqualität beeinflusst. Dies wird durch Ergebnisse der Schweizer Kohortenstudie für Menschen mit Rückenmarksverletzungen (SwiSCI) bestätigt.
Aufgrund ihrer anatomischen Struktur ermöglicht die menschliche Schulter einen grossen Bewegungsradius, während das Gelenk hauptsächlich durch die Muskeln stabilisiert wird – somit sind die oberen Extremitäten anfällig für Beschwerden.
Um Schulterbeschwerden zu mindern, zielt unsere Forschungsarbeit darauf ab:
- die zugrundeliegenden Mechanismen von Schulterbelastung in unserem Bewegungslabor zu untersuchen,
- Belastung, Belastbarkeit und Gewebsveränderungen zu messen und in Beziehung zueinander zu setzen,
- Methoden zu entwickeln, um die Schulterbelastung im Alltag zu überwachen.
Weitere Erkenntnisse in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Belastung, Belastbarkeit und Gewebsveränderungen ermöglichen eine Optimierung von Programmen zur Verletzungsprävention durch offene, gemeinsame Diskussion mit klinischen Experten.
Aktuell pflegen wir eine enge nationale und internationale Zusammenarbeit mit dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ), der Vrije Universität in Amsterdam, dem Medizinischen Universitätszentrum in Groningen und bauen die Zusammenarbeit mit weiteren Forschungsgruppen, klinischen Disziplinen und der QSL-Bevölkerung stetig aus, um wertvollen Input zu erhalten.
Mit diesen gemeinsamen Bemühungen wollen wir ein Qualitätsmanagementsystem für die Funktionsfähigkeit der oberen Extremitäten entwickeln, um die langfristige Schultergesundheit von Menschen mit QSL zu gewährleisten.
Beispiele für Projekte zum Thema Schultergesundheit:
- Handbike vs. Rollstuhl mit Greifring (Projekt abgeschlossen)
- Muskelüberanstrengung durch Rollstuhl-Handantrieb (laufendes Projekt)
- Wearables & Big Data (Projekt in Planung)
Forschungsprojekte
Handbike versus Rollstuhl mit Greifring
Es gibt einige Faktoren, die zur Entstehung von Schulterschmerzen beitragen. Die ständige Belastung durch das Antreiben eines Rollstuhls mit der Hand ist allerdings einer der Hauptrisikofaktoren. Mobilitätshilfen, wie der Rollstuhl, sind jedoch wichtig, da sie Menschen mit Querschnittlähmung (QSL) ein unabhängiges Leben ermöglichen. Daher sollten alternative oder zusätzliche Mobilitätshilfen neben dem Rollstuhl mit Handantrieb in Betracht gezogen werden. Da die Mobilität der oberen Extremitäten für gewöhnlich die einzige Form der körperlichen Betätigung für Menschen mit QSL darstellt, sollte ein manuelles Hilfsmittel bevorzugt werden, um regelmässige Bewegung zu gewährleisten.
Das Handbike ist eine dieser alternativen Mobilitätshilfen. Es wird zunehmend für den Arbeitsweg, Freizeitaktivitäten und beim Sport eingesetzt. Im Vergleich zum Rollstuhl mit Greifring ist die Verwendung des Handbikes körperlich effizienter (Puls, Atmung, Energieverbrauch) und schonender. Ob die mechanische Belastung der Schultern geringer ist, als beim Rollstuhl mit Handantrieb, wurde bisher noch nicht untersucht.
Der Fokus dieses Projekts lag auf den biophysikalischen Vorteilen des Handbikes, um die allgemeine Annahme zu untersuchen, dass das Handbike tatsächlich ein gutes Hilfsmittel zur Vorbeugung von Schulterbeschwerden ist. Zudem haben wir die Handbike-Benutzereinstellungen untersucht. Daraus lassen sich praktische Ratschläge ableiten, wie man das Handbike am besten an den jeweiligen Benutzer anpasst, um die Belastung der Schultergelenke weiter zu reduzieren.
Ergebnisse
Die Abbildung unten zeigt die unterschiedliche Schulterbelastung beim Benutzen eines Handbikes im Vergleich zum Rollstuhl mit Handantrieb. Als glenohumerale Kontaktkraft bezeichnet man die Kraft, mit der das Schultergelenk während des Antriebs zusammengedrückt wird. Dieser Druck entsteht durch die Kraft, die mit der Hand ausgeübt wird und durch die Kontraktionen der Muskeln rund um das Schultergelenk. Diese sind nötig, um die erforderliche Bewegung auszuführen und um das Schultergelenk gleichzeitig zu stabilisieren. (z.B: 10 Newton (N) ist die Kraft, die aufgebracht werden muss, um einen Körper der Masse 1 kg gegen die Schwerkraft zu halten).
Aus der Abbildung lässt sich ableiten, dass die Schultern bei der Benutzung eines Handbikes viel weniger belastet werden.
Muskelüberanstrengung durch Rollstuhlantrieb
30-70% der Menschen mit Querschnittlähmung (QSL) leiden unter Schulterschmerzen. Das hat einen enormen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit, Unabhängigkeit und Lebensqualität. Die Behandlung ist häufig unbefriedigend und die Schmerzen bleiben.
Durch eine frühe Diagnose und ein frühes Eingreifen im Fall von Schulterbeschwerden lassen sich die Auswirkungen von Schulterschmerzen deutlich reduzieren. Obwohl die genauen Mechanismen weiter unklar sind, gibt es einige bekannte Faktoren, die zur Entstehung von Schulterschmerzen beitragen.
Einer dieser Faktoren ist die mechanische Belastung der Schulter im Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit, z. B.: Wie viel Kraft wird benötigt, um einen Rollstuhl anzutreiben und welche maximale Antriebskraft kann ein Mensch ausüben? Je geringer die maximale Antriebskraft, desto schneller sind die Muskeln überlastet. Steigert man die Leistungsfähigkeit bis zu einem ausreichenden Niveau, so wirkt sich dies positiv auf die Prävention von Schulterschmerzen aus.
Ebenso ist bekannt, dass sich Bewegungsmuster durch Überbelastung ändern können. Dies ist zurückzuführen auf eine veränderte Aktivierung oder Koordination der Muskeln. Ein nicht optimales Bewegungsmuster beim Rollstuhlantrieb, beim Anheben zur Gewichtsentlastung oder beim Transfer kann das Risiko für Schulterschmerzen erhöhen. Solche Bewegungsmuster werden in unserem Bewegungslabor gemessen.
Letztendlich können auch längere Aktivitäten zu Gewebsveränderungen, wie etwa Verdickung und Hervortreten von Bizeps-Sehnen führen. Solche Veränderungen der Sehnendicke können mittels Ultraschall beobachtet und gemessen werden. Die Messung erfolgt nicht unmittelbar während des Rollstuhlantriebs, aber kurz nach einer belastenden Bewegung oder während des Anhebens zur Gewichtsentlastung.
Es ist nicht bekannt welcher Zusammenhang zwischen den erwähnten Veränderungen durch Überbelastung und dem Rollstuhlantrieb sowie der mechanischen Belastung der Schulter besteht. Diese Informationen sind jedoch nötig, um Trainings- und Präventionsprogramme weiterzuentwickeln.
Qualitätsmanagementsystem für die Funktionsfähigkeit der oberen Extremitäten
Wearables & Big DataGrundlagenforschung ist nötig, um einen Einblick in die Arbeitsmechanismen der oberen Extremitäten zu erhalten. Dazu sind kontrollierte Bedingungen in Bewegungslaboren erforderlich. Zusätzlich werden Fragebögen eingesetzt, um Informationen zur gelebten Erfahrung von grösseren Teilnehmergruppen zu erhalten.
Beide Forschungsansätze zielen darauf ab, Informationen aus dem wahren Leben zu erhalten, um dann mittels Analyse und Diskussion allgemeine Rückschlüsse auf den Alltag zu ziehen. Beide Ansätze sind jedoch nur eine Momentaufnahme dessen, was sich tatsächlich im wahren Leben abspielt.
Angesichts der schnellen technologischen Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren rückt ein dritter Ansatz in greifbare Nähe. Eine Vielzahl von tragbaren Sensoren und Smartphones könnte die gewünschte Langzeit-Überwachung der Funktionsfähigkeit der oberen Extremitäten im Alltag ermöglichen und so einen Überblick über die Anforderungen im Alltag liefern. Gleichzeitig werden damit die Dosis-Wirkungsbeziehungen deutlich zwischen:
- körperlicher Aktivität,
- biomechanischer Belastung der oberen Extremitäten, bis hin zum Niveau der muskuloskelettalen Modellierung,
- langfristigen Auswirkungen auf Gewebeveränderung,
- Funktionsleistung.
Darüber hinaus könnten diese nicht invasiven, unauffälligen und tragbaren Hilfsmittel auch Feedback während der Rehabilitationsphase oder nach der Entlassung geben, um:
- die Art und Weise des idealen Rollstuhlantriebs zu optimieren oder aufrechtzuerhalten,
- eine Überbeanspruchung oder mangelnde Beanspruchung unter Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit aufzuzeigen,
- Unterstützung oder Betreuung im Rahmen einer «gesunden» Leistungsfähigkeit zu liefern.
Um die Entwicklung eines solchen Qualitätsmanagementsystems für die oberen Extremitäten zu ermöglichen, konzentrieren wir und bei unserer Forschung auf:
- die Entwicklung von Methoden und Algorithmen (z. B. zur Einschätzung der biomechanischen Belastung im Alltag),
- die Erprobung der Benutzerfreundlichkeit der Hilfsmittel (z. B. Smart Watches, Internet of Things Module), um umfangreiche Messungen im Alltag zu ermöglichen,
- die Schaffung einer sicheren und angemessenen Infrastruktur (wo können Daten gesichert und verarbeitet werden, wer hat Zugriff auf die Daten).
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