«Die Rückenmarkforschung macht weitere Fortschritte»
Seit dem 1. Juli 2023 leitet PD Dr. Dr. Björn Zörner (47) das Schweizer Paraplegiker-Zentrum als Chefarzt Paraplegiologie in Nottwil. Im Interview erfahren Sie, wie er sich eingelebt hat, welche Visionen er umsetzen möchte und woran weltweit – auch in Nottwil – geforscht wird.
Text: Helen Affolter
Bilder: Adrian Baer, Joel Najer
Björn Zörner, vor rund einem Jahr haben Sie von der Universitätsklinik Balgrist zum Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) gewechselt und sind in Nottwil seither als Chefarzt Paraplegiologie tätig. Was ziehen Sie für eine Bilanz nach diesem Jahr?
Es war ein sehr intensives und aufregendes Jahr. Ich durfte in ein neues Spital, in einen neuen Verantwortungsbereich und in ein neues Team wechseln. Meine persönliche Bilanz nach diesem Jahr ist absolut positiv; ich wurde fantastisch aufgenommen und freue mich, nun ein Teil des SPZ-Teams sein zu dürfen.
Gab es in diesem ersten Jahr ein Erlebnis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Es gab viele sehr schöne und eindrückliche Momente in diesem Jahr. In einem Spital wie dem SPZ lässt sich täglich etwas Positives erleben. In der Klinik sind es einzelne Schicksale und Verläufe von Patientinnen und Patienten, die mir in besonderer, positiver Erinnerung bleiben. Bei meinem Start vor einem Jahr durfte ich aber gleich bei den Dreharbeiten zu der Fernsehsendung «SRF ohne Limit» dabei sein. Drei Teams mit je einer Rollstuhlfahrerin oder einem Rollstuhlfahrer lieferten sich ein Rennen über die Schweizer Alpen. Sie mussten es in fünf Tagen aus eigener Kraft von Göschenen über den Gotthard nach Airolo schaffen. Bei dieser Produktion dabei sein zu dürfen, war schon ein ganz besonderes Erlebnis.
Nach einem Jahr hat sich der Arbeitsalltag eingependelt und gefestigt. Wie sieht ein typischer Tagesablauf von Björn Zörner aus?
Tatsächlich ist mein Tagesablauf sehr geregelt und «gefestigt». Ich beginne den Tag mit unserem Indikationsmeeting, bei welchem neue Eintritte besprochen werden. Dann folgen der Röntgenrapport und die Visite auf einer der Stationen. Der Nachmittag und Abend ist dann meist voll mit ganz unterschiedlichen Terminen, die unter anderem Themen des Spital-, Abteilungs- und Personalmanagements, aber auch die Forschung und Lehre abdecken.
Was schätzen Sie an Ihrer Arbeit am meisten? Und was, wenn Sie könnten, würden Sie aus Ihrem Arbeitsalltag streichen?
Besonders Freude macht mir die Abwechselung in meinem Beruf. Ich darf mich einerseits mit klinischen, aber auch wichtigen organisatorischen und auch kreativen Themen auseinandersetzen. Ich freue mich enorm über unsere hochmotivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im SPZ. Ich darf in meiner Funktion mitgestalten und dazu beitragen, Dinge zu ändern bzw. – wo möglich – zu verbessern. Ich möchte im Augenblick tatsächlich nichts aus meinem Alltag streichen. Aber vielleicht ist es auch noch zu früh, das nach einem Jahr definitiv zu sagen. Eine Herausforderung ist für mich vor allem das Zeitmanagement. Der Tag vergeht einfach zu schnell.
Bleiben wir doch gleich bei den Dingen, die man ändern oder verbessern kann. Konnten Sie in dieser kurzen Zeit schon Vorhaben umsetzen?
Natürlich hat man Visionen und Ideen, wenn man eine neue Stelle antritt. Diese sind bei mir aber langfristig angelegt. Nach einem Jahr ist es noch zu früh, Bilanz zu ziehen. Man kann aber erste Akzente setzen und beginnen, Dinge umzusetzen. Gleichzeitig muss man aber auch demütig an so eine Aufgabe herangehen. Das SPZ macht qualitativ eine hervorragende Arbeit. Aus meiner Sicht darf man da nicht zu aktivistisch vorgehen, sondern langfristig Schritt für Schritt kleine Verbesserungen umsetzen. Ein Punkt, den wir umsetzen konnten, war zum Beispiel ein zusätzliches Fortbildungsprogramm für unsere Assistenzärztinnen und -ärzte. Im Zentrum des Programms steht das praxisorientierte Lernen in kleinen Gruppen. Ein weiterer Schritt ist das Voranbringen des SPZ als Standort für Lehre und Forschung. So haben wir damit angefangen, internationale und nationale Kollaborationen auszubauen, zu vertiefen und Projekte anzustossen.
Welches sind denn die langfristigen Ideen und Visionen, die Sie mit nach Nottwil gebracht haben?
Mir war von Anfang an klar, dass ich als neuer Chefarzt in Nottwil niemandem beibringen muss, wie Rehabilitation bei Menschen mit einer Rückenmarkverletzung funktioniert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im SPZ arbeiten schon lange mit querschnittgelähmten Menschen und machten schon vor meiner Zeit hervorragende Arbeit. Ein Ziel ist es daher, diese qualitativ hervorragende Behandlung von Menschen mit einer Rückenmarkschädigung fortzuführen. Daneben gilt mein Augenmerk noch etwas anderem: Denn das Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist nicht nur eine Klinik, sondern auch ein Standort für Lehre und Forschung. Und insbesondere die Vernetzung dieser drei Pfeiler möchte ich vorantreiben. Das braucht viel Koordination, gute Projekte und gute Leute. Das versuche ich in den nächsten Jahren umzusetzen. Dann möchte ich gerne zurückschauen und sagen: «Das haben wir hinbekommen.»
Sie sagen es selbst: Für die Umsetzung dieser Vision braucht es «gute Leute». Nicht einfach in einer Zeit, in der der Fachkräftemangel in aller Munde ist – gerade in Pflegeberufen.
Es stimmt, wir haben mit dem Fachkräftemangel sehr zu kämpfen. Es ist wohl eines der grössten Probleme der heutigen Zeit. Umgekehrt kann es aber eine Chance sein, jetzt in einen attraktiven Standort zu investieren. Und gerade so eine Vernetzung von Klinik, Forschung, Lehre bzw. Ausbildung – und zwar querbeet durch alle Disziplinen – macht aus meiner Sicht eine Arbeitgeberin attraktiv. Ich glaube, dass wir so engagierte und motivierte Mitarbeitende überzeugen können, bei uns zu bleiben oder zu uns zu kommen. Das Investment in einen attraktiven Standort kann eine gute Strategie sein, dem Fachkräftemangel bei uns entgegenzuwirken.
Die Forschung liegt Ihnen persönlich besonders am Herzen. Sie sind ein Experte auf dem Gebiet der Forschung über neurologische Erkrankungen und Verletzungen des Rückenmarks. Können Sie in der aktuellen Tätigkeit noch Forschungsarbeit betreiben?
Absolut. Die Forschung gehört zum Glück mit zu meinen Hauptaufgaben und ist meine persönliche Leidenschaft. Die Forschung bietet Raum für Kreativität und Neugierde. Zudem leben wir in einer Zeit, in der sich viel verändert und erste, wenn auch vielleicht von aussen betrachtet, kleine Fortschritte in der Paraplegiologie zu sehen sind.
An was forschen Sie aktuell?
Wir sind momentan an mehreren grossen Studien beteiligt. Besonders erwähnenswert ist sicher die NISCI-Studie bzw. deren Fortsetzung. Dabei geht es im Grundsatz um eine der wichtigsten Fragen bei Querschnittlähmung: Warum regenerieren die geschädigten Nervenfasern im Rückenmark nicht? In den 1980er Jahren konnte ein Protein im zentralen Nervensystem identifiziert werden, das Nogo-A-Protein, welches wie ein Stoppsignal wirkt und die Regeneration aktiv verhindert. Dieses Stoppsignal kann mit einem Antikörper ausgeschaltet werden und so die Regeneration von verletzten Nervenfasern anregen. Hier macht die Forschung weitere Fortschritte.
Wenn sich die ersten sehr positiven Signale aus der gerade abgeschlossenen Studie im Menschen weiter bestätigen liessen, wäre das ein grosser Schritt. Bis diese Ansätze aber als Standard in die klinische Praxis übernommen werden können, werden vermutlich leider noch einige Jahre vergehen. Aber es geht Schritt für Schritt voran: Wir sind aktuell dabei - zusammen mit einem internationalen Netzwerk von Kliniken - den zweiten Teil der Studie aufzugleisen. Daneben gibt es auch kleinere eigene Forschungsarbeiten. Beispielsweise versuchen wir, unsere Therapien oder Hilfsmittel zu optimieren.
Das alles klingt sehr vielversprechend! Was bringt also die Zukunft? Können querschnittgelähmte Menschen eines Tages sogar wieder gehen?
Die Einschränkung der Gehfähigkeit ist «nur» ein Aspekt einer Querschnittlähmung. Die Harnblasen-, Darm- und Sexualfunktion, chronische Schmerzen und Spastik sind andere Funktionen oder Komplikationen, die Betroffene einschränken und belasten. Das Ziel sollte z.B. eine Therapie sein, die eine Regeneration der Nervenfasern hervorrufen und damit mehrere Probleme gleichzeitig angehen kann. So weit sind wir jedoch jetzt noch nicht und man darf auch keine falschen Hoffnungen wecken. Die Forschung wird noch einige Zeit brauchen. Ich bin aber sehr optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren durch die Forschung neue Möglichkeiten haben werden, die neurologischen Einschränkungen unserer Patientinnen und Patienten weiter zu verbessern.
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