Er lässt sich vom Schmerz nicht mehr ärgern
Frank Clasemann lebt mit seiner Tetraplegie sehr selbstbestimmt. Er muss neue Regeln befolgen und ist dankbar für eine zweite Chance.
Frank Clasemann lebt mit seiner Tetraplegie sehr selbstbestimmt. Er muss neue Regeln befolgen und ist dankbar für eine zweite Chance.
Text: Peter Birrer
Fotos: Philipp Schmidli
Dieser stechende Schmerz, das fürchterliche Kribbeln, dieses Brennen, überall. Er dachte zu wissen, wie sich schweres Leiden anfühlt. Wie es sein muss, wenn der Körper auf einmal nicht mehr funktioniert. «Vergiss es», sagt er. «Was mit dir passiert… Da kannst du verrückt werden.» Als Physiotherapeut kennt Frank Clasemann den menschlichen Körper; neurologische Schmerzen oder Missempfindungen sind vertraute Begriffe. Am 28. Juli 2011 half ihm das nichts. Ein Surfunfall an der französischen Atlantikküste machte ihn zum inkompletten Tetraplegiker.
Beinahe ertrunken
Eine hohe Welle schleuderte ihn kopfvoran mit voller Wucht auf den Meeresboden. Als er unter der Wasseroberfläche lag, stand er Todesängste aus. Er konnte weder Arme noch Beine bewegen; alles, was er spürte, war sein Gesicht. Der Rest kam ihm vor wie Pudding. Der ausgebildete Rettungsschwimmer und trainierte Sportler dachte, er müsse nur Ruhe bewahren, in ein paar Sekunden würde er sich selbst befreien. Aber er irrte, kein Muskel regte sich. Der Sauerstoffmangel wurde immer grösser, panische Angst kam auf. «Es war ein ekelhaftes Gefühl, Wasser einatmen zu müssen», sagt Clasemann. Seine Freundin – mit beim Wellenreiten – realisierte zum Glück, dass das Surfbrett einsam im Meer trieb. Sie zog den mittlerweile Bewusstlosen aus dem Wasser und schrie um Hilfe. Fast ein Jahrzehnt später erzählt er die Geschichte in seiner Wohnung in Thalwil ZH, jetzt dringt vor allem die positive Einstellung des 46-jährigen Deutschen durch, der seit 2009 in der Schweiz lebt. Ihn quält nicht mehr die Frage, wieso er damals sein Bauchgefühl ignorierte und es noch einmal mit dem Meer aufnahm. «Vielleicht lässt sich meine Dankbarkeit damit erklären, dass ich dem Tod so nahe stand, mich bereits von meiner Freundin verabschiedet hatte.» Die im letzten Moment heraneilende Notärztin gab ihm ein Mittel, das schlagartig das Atmen wieder ermöglichte. «Ich weiss nicht, was sie mir gab», sagt er. «Aber es war ein phänomenaler Moment. Die Dankbarkeit, doch noch weiterleben zu dürfen, hält bis heute an.» Clasemann wird in der Universitätsklinik von Bordeaux operiert, es geht ihm körperlich und seelisch schlecht. Er kann wegen der künstlichen Beatmung nicht sprechen, versteht kein Wort Französisch und kann sich kaum mitteilen. Ein Gefühl, als wäre er auf dem Mars gelandet. Seine Verzweiflung legt sich mit der Verlegung in die Schweiz. Als der Rega-Arzt ihn mit einem «Grüezi» aus dem Spitalzimmer abholt, weiss er: Jetzt bin ich in guten Händen.
Das Glücksgefühl in Nottwil
Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) erfährt Frank Clasemann die Diagnose: Tetraplegie. Er muss lernen, die Grenzen hinzunehmen, die seine Behinderung setzt. Heute sagt er: «Ich bekam neue Regeln. Es war wie ein ganz neues Leben.» Anfänglich hofft er noch, dass sich sein Rückenmark vom Schock erholt, er müsse einfach einige Wochen, vielleicht Monate Geduld haben. Nichts ist ihm wichtiger als ein selbstbestimmtes Leben. Tatsächlich kehren gewisse Funktionen zurück, weil beim Unfall nicht alle Nervenzellen beschädigt worden sind. Er kann seine Gliedmassen wieder etwas bewegen, seine Querschnittlähmung ist «inkomplett». Intensives Glück empfindet er, als er das erste Mal aufstehen kann, die Schwerkraft spürt und aus seinem Zimmer in Nottwil einen Blick auf den Pilatus hat: «Allein stehen zu können als Mensch mit Querschnittlähmung – das war unbeschreiblich.» Es setzt nicht nur Emotionen frei, sondern animiert ihn dazu, schrittweise leistungsfähiger zu werden. «Je besser ich mich aus eigener Kraft fortbewege, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass Darm- und Blasenfunktion wieder so intakt sind wie früher», sagt er sich. Bis in drei Jahren würde sich alles normalisiert haben. Auch die Leistungsfähigkeit von Herz und Atmung würde wieder das gewohnte Niveau erreichen. Er sollte damit nicht recht behalten. Clasemann muss sich mit dauerhaften Einschränkungen abfinden, etwa dass Darm und Blase nicht mehr selbstständig arbeiten. Die Katheterisierung wird zur Routine wie das Zähneputzen. Er sagt: «Ich habe mich damit arrangiert.» In seiner Umhängetasche oder im Auto hat er stets Katheter dabei, pro Tag benötigt er fünf bis sechs. Anspruchsvoll wird es auf Reisen. Als er 2014 für zwei Wochen nach Kuba fliegt, ist ein Koffer allein mit Kathetern gefüllt.
Zwangspause nach dem Studium
Frank Clasemann ist ein Willensmensch. Im Beruf war er getrieben vom Ehrgeiz, besser zu werden, im Sport wagte er sich ans Limit; beim Surfen, Gleitschirmfliegen, Triathlon oder Klettern. Wieso also nach dem Unfall nicht weiterhin das Tempo hochhalten? Er mutet sich viel zu, will sich beweisen: Ich schaffe das. 2012 nimmt er ein Masterstudium auf, zudem coacht er andere Physiotherapeuten in einer Praxis in Niederhasli ZH. Das Pensum strengt an, überfordert ihn. Es fällt ihm schwer, sich drei Stunden am Stück zu konzentrieren, seine kognitive Aufnahmefähigkeit ist reduziert. Aber Resignation ist kein Thema, es käme einer persönlichen Niederlage gleich. Clasemann sträubt sich dagegen, er sagt: «In mir machte sich während des Studiums der Frank bemerkbar. Der Beharrliche, der um jeden Preis an sein Ziel gelangen wollte.» Er nimmt Medikamente, um gegen die immer stärkeren Schmerzen anzukämpfen. Aber sie verursachen Nebenwirkungen, etwa eine grosse Müdigkeit. Er fühlt sich ausgelaugt, sein Gemütszustand wird instabil. Clasemann versucht, eine Balance zu finden und die Medikamente so zu dosieren, dass der Schmerz nicht zu heftig wird und er trotzdem nicht ermüdet – «so wenig wie möglich und so viel wie nötig.» Das Studium schliesst er nach vier Jahren ab, aber die hohen Anforderungen und die Belastungen des Körpers erschöpfen ihn vor allem mental so sehr, dass er eine mehrmonatige Auszeit nehmen muss. Danach gibt er in der Physiopraxis eines Freundes regelmässig Schulungen, vier bis fünf Stunden pro Woche.
Als inkompletter Tetraplegiker verzichtet Clasemann so oft wie möglich auf den Rollstuhl, besonders weil es ihn stört, dass er im Gespräch seinem Gegenüber nicht auf Augenhöhe begegnen kann. Zwei Wanderstöcke sind wichtige Hilfsmittel, aber wenn er in Niederhasli vor der Praxis vorfährt, legt er auch die zur Seite und schaltet in den Wettkampfmodus: «Dann beginnt meine sportliche Challenge. Ich stelle mich bewusst dem Stress, hinfallen zu können, und will mir zeigen, dass ich ohne Hilfsmittel gehen kann.»
Während der Rehabilitation bemerkte er, dass es für einen Physiotherapeuten oder selbst erfahrene Ärzte schwierig bis unmöglich war, die perfekte Behandlung für ihn zu finden: «Sie können vieles einordnen, wissen aber nicht im Voraus, welcher Therapieansatz mich in welcher Form beeinflusst.» Deshalb testete er in Nottwil ein
breites Angebot an Therapien und lernte, mit seinen körperlichen und seelischen Dauerschmerzen «liebevoll» umzugehen, wie er sagt. «Ich war am Anfang extrem sauer über den Schmerz. Aber Ärger, Wut, Trauer und Enttäuschung bringen dich nicht vorwärts. Ich wollte nicht in eine Depression fallen oder den Rest meiner Tage Trübsal blasen, sondern beeinflussen, was ich noch beeinflussen kann.»
Der Körper reagiert schnell
Von Schmerzen lässt er sich nicht mehr ärgern, er akzeptiert sie als Teil der Querschnittlähmung und weiss, dass er sie auch ein bisschen steuern kann. Viel Bewegung tut gut, die morgendliche Dusche und das Eincremen beruhigen das Nervensystem. Stress wirkt sofort negativ, schlechter Schlaf ebenso, der Körper reagiert viel sensibler auf Einflüsse von aussen als früher. Deshalb erlaubt er ich, alles eine Spur ruhiger anzugehen. Er will im Beruf gut sein, ja, aber definieren muss er sich nicht mehr darüber. Und bezüglich sportlicher Belastung gibt ein zweistündiger Spaziergang mit Wanderstöcken und Fotoapparat genauso viel Zufriedenheit wie früher ein Triathlon. Grenzen, sagt er, sind relativ: «Jeder Schritt ist ein Erfolg. Das Tempo ist völlig irrelevant.» er Frank Clasemann begegnet, wenn er zu Fuss unterwegs ist, erkennt nicht auf den ersten Blick, dass der Mann querschnittgelähmt ist. Keiner sieht, wie er sich maximal konzentrieren muss, um nicht zu stürzen. Dass er vom Bauchnabel abwärts nicht zwischen Wärme und Kälte unterscheiden kann. Oder wenn es in den Händen brennt, als hätte er in Brennnesseln gegriffen. «Für die meisten Leute bedeutet Tetraplegie: vom Hals an gelähmt und ein Leben im Elektrorollstuhl. Bei mir ist vieles unsichtbar.»
Verständnis für die Trennung
Frank Clasemann sieht sein Überleben als ein Geschenk Gottes. Sein Glaube spornte ihn an, aus seiner Tetraplegie «etwas zu machen». Er musste manchen Rückschlag wegstecken. Dazu gehört, dass seine damalige Freundin, mit der er die schönsten Surf-Hotspots der Welt erkunden wollte, ihn kurz nach dem Unfall verlassen hat. Er brauchte Zeit, um das zu verarbeiten, aber rational konnte er ihre Entscheidung nachvollziehen: «Wenn ein Mensch verunfallt, verunfallt auch sein soziales Umfeld. Meine Freundin hatte die Wahl, ob sie mit einem Partner mit Querschnittlähmung zusammenleben möchte. Ich hingegen hatte keine Wahl und musste meine Querschnittlähmung annehmen. Und ich weiss auch nicht, ob ich bei ihr geblieben wäre, wenn sie einen solchen Unfall gehabt hätte.» Seit acht Jahren ist Frank Clasemann wieder liiert. Über die sozialen Medien kam er mit Indra Wessels in Kontakt, sie stammt aus dem gleichen Ort in Deutschland wie er und ist zu ihm nach Thalwil gezogen. «Für mich ist das ein Riesengeschenk. Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, Single zu bleiben.» Er sagt, er führe ein gutes Leben. «Vielleicht ist es sogar noch schöner als vor dem Unfall.» Dazu passt ein Satz aus seinem Buch: «Der Versuch, das Positive im Leben bewusst zu erkennen und wertzuschätzen, ist ein Weg, der Traurigkeit die Dunkelheit zu nehmen.»
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