Floriane Willemin_4

«Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Langeweile.», Aus der Stille heraus (4/6)

Das Schicksal hat sie hart getroffen, aber Floriane Willemin hat sich nicht unterkriegen lassen, sondern wurde von ihren Angehörigen unterstützt. Wir haben sie an ihrem Wohnort in Boncourt getroffen. Eine intensive Begegnung voller Emotionen.

 

Wir müssen zugeben, dass uns vor dem Gespräch mit Floriane Willemin ein mulmiges Gefühl beschlich. Wenn man jemanden trifft, der 26 Jahre lang in Schweigen gehüllt war, bereitet man sich auf einen intensiven Moment vor. Aber, Überraschung : zwischen Empörung und Ernsthaftigkeit wird das Gespräch auch von Anmut und Leichtigkeit geprägt. Ein sonniger Nachmittag Ende August im Foyer des Fontenattes in Boncourt. Hier lebt die 46-jährige Floriane Willemin seit 2011. Die Jalousien sind heruntergelassen, ihr Zimmer liegt im Halbdunkeln. An der Wand hängen Fotos einer glücklichen Familie. Floriane erwartet uns in ihrem Rollstuhl sitzend. Die Fingernägel sind lackiert, sie ist geschminkt und von Louanne, ihrer sozialpädagogischen Assistentin, frisiert worden. Für das Interview hat sie sich schön gemacht. Für sie, die sich entschieden hat, aus dem Schatten zu treten und ihre schreckliche Geschichte zu erzählen, ist heute ein grosser Tag. Ihre Betreuerin ermutigt sie, bevor sie den Raum verlässt.

«Aber Sie sind doch wegen der Arbeit hier?»

Floriane sitzt vor einem kleinen, auf ihre Bedürfnisse angepassten Sprachcomputer. Mithilfe dieses Geräts kann die Bewohnerin (die nur einen Arm und einen Daumen willentlich bewegen kann) kommunizieren, indem sie ihren rechten Daumen auf zwei Taster drückt. Dadurch kann sie die vom Sprachcomputer vorgeschlagenen Buchstaben auswählen und so Wörter und anschliessend Sätze bilden. Aber allein würde Floriane das nicht schaffen. Sie braucht ihre Heilpädagogin Laure Nusbaumer, die ihre rechte Hand hält. Diese Art der Kommunikation ist zwar mühsam, da Floriane manchmal unwillkürliche Bewegungen macht und sehbehindert ist, aber im Moment ist sie die beste Lösung für sie. Zu Beginn des Interviews wird gefragt, wie es Floriane geht. Es dauert lange, bis ihre Antwort auf dem Bildschirm erscheint: «Aber sind Sie wegen der Arbeit hier?» Als wir begreifen, dass wir nicht erwähnt haben, dass wir hier sind, um ihre Geschichte für Le Quotidien Jurassien zu recherchieren, brechen wir in schallendes Gelächter aus. Dummköpfe sind wir.

«Ja, es war die Hölle.»

Floriane Willemin

Nachdem sie sich über den Zweck unseres Besuchs vergewissert hat, bemüht sich Floriane mit grosser Anstrengung und Konzentration, uns zu antworten. Wir versuchen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir wollen uns jedoch nicht beeilen, sondern erst einmal herausfinden, wie sie sich in den Jahren, in denen sie nicht kommunizieren konnte, gefühlt hat: «Ich war wütend auf die Ärzte.» War es die Hölle, wagt man zu fragen? «Ja», antwortet Floriane, indem sie eine kleine grüne Karte hochhält, um die Frage zu bejahen. Sie hat sich sehr angestrengt.

Floriane Willemin_4

Leid und Langeweile

Das Schlimmste, was sie erlebt hat: «Nichts war schwieriger für mich, als mir zu sagen, dass ich nicht mehr mit meiner Familie sprechen kann.» War sie verzweifelt? «Nein», antwortet sie ohne zu zögern und nimmt die rote Karte in ihre gesunde Hand. War sie manchmal von einem Gefühl der Ohnmacht geplagt? «Ja.» Hat sie sich verlassen gefühlt? Floriane zögert zwischen den beiden Karten. Rot oder grün? Dann wird die Frage umformuliert: Hat sie sich von den Ärzten im Stich gelassen gefühlt? «Ja.» Von ihrer Familie? «Nein.» Das ist ein heikles Thema, nämlich das Leiden. Hat sie bei bestimmten medizinischen Massnahmen Schmerzen empfunden? «Ja.» Ohne dies mitteilen zu können? «Ja ». Angesichts dieser Informationen und Visionen atmen wir tief durch. Auf die Frage, welches andere Gefühl sie die ganze Zeit über hatte, antwortete sie: «Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Langeweile. » Das heisst, die Jahre, in denen sie nicht kommunizieren konnte, kamen ihr wie eine endlose Nacht vor. Hat sie jemals eine Depression erlebt? «Ja», antwortet sie. Hätten die Ärzte diese sehen können? «Ja.» Wie? Sind Tränen geflossen? Wieder «Ja».

«Die Möglichkeit, das zu tun, was die anderen tun.»

Was hat ihr in diesem langen Tunnel geholfen, durchzuhalten? «Vom ersten Tag an und die ganze Zeit über war es meine Mutter, die mir geholfen hat.» Und was hat ihr manchmal gut getan? «Ab und zu konnte ich wie die anderen sein, ich habe neue Leute kennengelernt». Und warum wollte sie ihren Lebensweg erzählen? «Für mich ist es wichtig zu sagen, dass ich eine intelligente Frau bin.» In gewisser Weise die Wahrheit zu sagen. Zu sagen, dass man sich in ihr getäuscht hat und dass sie «kein Gemüse» ist.

«Ich bin ein Star»

Davon zeugt auch die Ankunft unserers Fotografen, der wie sie in Saulcy aufgewachsen ist. «Ja», nickt Floriane, sie erinnert sich gut an ihn. Während Stéphane Gerber den besten Winkel sucht, um sie zu fotografieren, schreibt sie fleissig einen Satz. Nach ein paar Minuten erscheint die Nachricht auf dem Bildschirm: «Ich bin ein Star». Ein Moment der Anmut und Leichtigkeit.

 

© Dieser Artikel wird mit der Genehmigung der Editions D+P SA, der Verlagsgesellschaft des Quotidien Jurassien, 6. Oktober 2022, veröffentlicht.

Mitglied werden
Mitglied werden

Werden Sie jetzt Mitglied und erhalten Sie im Ernstfall 250 000 Franken.

Mitglied werden
Spenden
Spenden

Spenden Sie jetzt und unterstützen Sie unsere Projekte zugunsten von Querschnittgelähmten.

Spenden