Titelbild: Christoph Läser
Interview: Antje Giger, Belinda Steinmann
Bilder: Christoph Läser, Antje Giger
Antje, du warst im März 2022 im Auftrag von Orthotec zehn Tage in Georgien. Worum ging es beim Hilfseinsatz?
Wir machten Hausbesuche bei Familien mit schwer behinderten Kindern und jungen Erwachsenen. In ländlichen Gebieten ist die therapeutische und medizinische Infrastruktur dürftig. Wir passten die Rollstühle der jungen Menschen an und reparierten sie. Gleichzeitig bildeten wir lokale Fachleute weiter.
Was gab es konkret zu tun?
Da war zum Beispiel der achtjährige Nicoloz. Er hat eine fortschreitende Rückenmarkserkrankung und kann nur noch sehr schlecht gehen. Sein Rollstuhl stand mit platten Pneus auf dem Hof. Die Fussstützen fehlten und verschiedene Teile waren abgebrochen. Eine junge Frau konnte das Bett kaum noch verlassen, weil ihr Rollstuhl unpassend und defekt war. Oder das Beispiel von Lasha, ein junger Mann mit Cerebralparese und einer Streckspastik – das bedeutet, sein Bewegungsapparat ist eingeschränkt und seine Muskeln stehen unter zu hoher Spannung wegen einer Hirnschädigung im Umfeld der Geburt. Statt zu sitzen lag Lasha in seinem viel zu breiten Gefährt auf vielen Kissen und Decken. Vor seiner Tür stand ein neuer Rollstuhl, jedoch unbenutzt, weil niemand ihn anpassen konnte.
Wie kam es zu deinem Engagement?
Der Verein MTE fragte Orthotec, ob wir das Projekt längerfristig unterstützen möchten. Mit Interesse hörte ich mir ihren Vortrag an und meldete mich für den ersten Einsatz für unser Team. Denn trotz der eindrücklichen Erzählungen und Bilder hatten wir nur eine vage Vorstellung davon, was wir vor Ort antreffen würden und welches Material wir benötigten. Mit meinen 30 Jahren Berufserfahrung habe ich etliche Rollstühle angepasst und repariert, Sonderlösungen entwickelt und Sitzschalen fürs aufrechte Sitzen im Rollstuhl realisiert. Dieses Wissen wollte ich für die Menschen in Georgien einsetzen und darüber hinaus meinen Kolleg*innen einen Einblick für ihre kommenden Einsätze verschaffen, denn Orthotec hatte sich für eine längerfristige Zusammenarbeit verpflichtet.
Nach einigen Monaten Corona-Verzögerung ging es im März 2022 endlich los. Mit wem warst du unterwegs?
Wir waren ein Dreierteam aus der Schweiz: Martin Haug und Fenja Läser, die das Projekt seit Anbeginn leiten, und ich. Ich hatte Ersatzteile und Sitzkissen dabei sowie Material für Sitzanpassungen. Kurzfristig packte ich auch noch einen Ersatzrollstuhl dazu, denn ich erhielt einige Fotos zu bevorstehenden Hausbesuchen. Sie zeigten riesige Rollstühle, die so kaputt waren, dass man kaum wusste, wo man anfangen sollte mit Reparieren. Einer war garantiert nicht mehr zu retten, das war schnell zu erkennen.
Was waren eure ersten Aktivitäten?
Wir nutzten Tag eins und zwei in Tiflis für Projektbesprechungen und Besuche. Danach reisten wir in die Provinz Kachetien und richteten unsere provisorische Werkstatt ein. Eine Tour nach Gurjaani und eine nach Tsnori waren vorgesehen, zwei entlegene Orte in Kachetien. Das Zeitbudget betrug acht Tage für acht Menschen und ihre Rollstühle. Ich lernte die lokalen Projektmitglieder kennen. Shukia und Meri, die Krankenpflegerinnen, welche für den pflegerischen Teil der Hausbesuche zuständig waren, Projektleiterin Miranda, Dolmetscherin Elene sowie Keti und Bacho, die beiden Fachleute für die Rollstuhlanpassung, die ich weiterbilden sollte und viele mehr, die in irgendeiner Weise bei Workshops für die Familien mitwirkten. Überall wurden wir sehr herzlich empfangen.
Wie erlebtest du die Hausbesuche?
Es war unvergesslich, bereichernd und bitterkalt. Der Winter war mit Schnee zurückgekehrt. Unterwegs lag ein Wagen im Strassengraben. Wir stoppten und schoben ihn zusammen mit weiteren Autofahrer*innen zurück auf die Strasse. Ganz im Gegensatz zur Polizei, die einfach an uns vorbeifuhr. Zuerst besuchten wir alle Familien und nahmen auf, was wir verbessern konnten. Danach liessen wir durch Helfer*innen und Taxis die Rollstühle in unsere Werkstatt bringen. Die Menschen in Georgien sind sehr hilfsbereit. Einfach alle um uns herum packten in irgendeiner Weise mitan. Wir reparierten, optimierten und improvisierten und lieferten später die Hilfsmittel wieder zuhause ab. Dort machten wir die finalen Anpassungen und gaben den Familienangehörigen Anweisungen. Zum Beispiel, wie man den Rollstuhl richtig nutzt, die Person am besten in und aus dem Rollstuhl transferiert oder die Sitzposition mit Tüchern und Kissen an der richtigen Stelle unterstützt.
Du sagtest improvisieren?
Und wie! Ich lernte, wie man aus Schrott und wenig mitgebrachtem Material nutzbare Hilfsmittel macht. Es gibt pannensichere Pneus. Doch auch die gehen kaputt, wenn man mit ihnen in einen heissen Ofen fährt. Der alte Pneu hatte sich mit der Kunststofffelge verbunden. Ein neuer Pneu dieser Sorte war in Georgien nicht zu erhalten, unser mitgebrachter war zu breit. So schnitten wir ihn kurzerhand mit dem Skalpell zurecht. Wir schnitzten, klebten, nähten, machten aus alten Sitzkissen neue, passende Modelle, fertigten aus Holz und Schaumstoff Sitzschalen an und massschneiderten Beckengurte für besseren Halt.
Wie reagierten die Rollstuhlfahrer*innen auf eure Arbeit?
Die meisten mit grosser Freude und Dankbarkeit. Doch nicht alle konnten sich selbst mitteilen. Und der Grossvater eines Jungen stellte sogar in Frage, ob man Rollstühle überhaupt anpassen muss. Da fehlten mit kurzfristig die Worte. Es ist den Leuten noch nicht klar, welche Vorteile ein gut angepasster Rollstuhl für die Betroffenen hat.
Welche Vorteile konkret?
In einem Wort: Bewegungsfreiheit. Weniger gefährliche Druckstellen, weniger Schmerzen, mehr Möglichkeiten. Rollstuhlfahrer Dato zum Beispiel: Er lag mehr im Rollstuhl, als dass er sass, weil er sein Hüftgelenk nicht richtig beugen konnte. Seit einer Operation vor mehreren Jahren war er nie wieder selbst Rollstuhl gefahren. In unserer Werkstatt schnitzte ich ihm aus Schaumstoff ein Kissen, das seinen Hüftbereich entlastete und ihn aufrecht sitzen liess. Zudem montierte ich ein Gurtsystem für sicheren Halt. Als wir ihm den angepassten Rollstuhl übergaben, hatte Dato leider überhaupt keine Lust zum Sitzen und zeigte uns das auch. Er sass schlechter als zuvor und es wurde immer schlimmer, je mehr wir uns bemühten. Mir kamen langsam Zweifel, ob meine Arbeit passte. Wir brachen die Anprobe ab und verschoben auf den nächsten Tag. Auf dem Weg zur Tür folgte er uns plötzlich selbständig hinterher. Das erste Mal seit Jahren fuhr Dato selbst Rollstuhl!
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