Erfolg ist ein Marathon
Erfolg ist ein Marathon
Die Tür öffnet sich. Die Köpfe der Zuschauenden drehen sich um. Als sie ihn erspähen, klatschen sie Beifall. Flink rollt Marcel Hug in den Saal. Der international bekannte Schweizer Rennrollstuhl-Athlet, hat es trotz verspätetem Flug zum Podiumsgespräch in Boston, USA, geschafft.
Fotos: Schweizerisches Generalkonsulat NY/Swissnex (Event, Zielfoto), B.A.A. (Headerbild), Sauber (Rennwagen), Schweizer Paraplegiker-Stiftung (restliche)
Text: Belinda Steinmann
Mit kraftvollen Armbewegungen jagt er seinen Rollstuhl über die Rampe hinauf auf die Bühne. Gekonnt dreht er eine enge Kurve und hält punktgenau an seinem Platz. Das Publikum ist begeistert von Hugs rasantem Auftritt. Drei Tage später wird er am Boston Marathon noch schneller unterwegs sein. Doch eine der zahlreichen Kurven wird ihn kurz und heftig aus der Bahn werfen. Trotzdem wird er im Ziel die goldene Siegerkrone tragen – mit dem Streckenrekord in der Tasche.
Schweizer Innovation begeistert in Boston
Was braucht es, um Weltrekorde zu brechen? Zu dieser Frage luden das Schweizerische Generalkonsulat in New York und Swissnex zu einer Podiumsdiskussion am renommierten MIT in Boston ein. Sie fand am 12. April, im Vorfeld des Boston Marathons, mit Marcel Hug und dem Schweizer Entwicklerteam seines High-Tech-Sportgeräts, statt. «Rollstuhlsport ist Spitzensport und verdient Spitzenmaterial», ist Stefan Dürger überzeugt. Der Geschäftsführer von Orthotec, hatte das Projekt vor sieben Jahren initiiert. Das Resultat, der OT FOXX, wird inzwischen als der schnellste Rennrollstuhl der Welt gehandelt.
Orthotec ist ein auf Hilfsmittel spezialisiertes Unternehmen der Schweizer Paraplegiker-Gruppe in Nottwil. Auf deren hochmodernen Anlagen trainiert Athlet Marcel Hug. Ihn hat Stefan Dürger als Schlüsselfigur ins Projekt geholt, ebenso wie Sauber Technologies. Das Hinwiler Unternehmen, das zur Formel-1-Gruppe gehört, wird in Boston von Projektleiter Adrian Schwarz vertreten: «Wer Spitzenleistungen toppen will, darf wie in der Formel 1 keine Kompromisse eingehen. Weder beim Material noch bei der Technologie.» Und so landete Marcel Hug, angeschnallt in einer Spezialkonstruktion, im Rennrollstuhl im Windkanal, wo sonst Rennwagen auf ihre Aerodynamik getestet werden. Alles für das grosse gemeinsame Ziel: Gold im OT FOXX bei den Paralympics in Tokyo. Vier von vier Goldmedaillen holte der Schweizer Ausnahmeathlet in Japan. Die Fachwelt urteilte: eine Sensation!
Eine Vorreiterrolle
Auch das einzigartige Leistungsnetz der Schweizer Paraplegiker-Gruppe kam in Boston zur Sprache – als Vorbild für andere Länder. Die lebenslange und ganzheitliche Begleitung von Menschen mit Querschnittlähmung ist ein Erfolgsfaktor:
- Mit einer Quote von über 60 Prozent ist die Schweiz führend beim Wiedereingliedern von Menschen mit Querschnittlähmung in den Arbeitsmarkt.
- 1,9 Millionen Mitglieder tragen wesentlich zur finanziellen Basis der Schweizer Paraplegiker-Gruppe bei. Das sind über 20 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung.
- Der Rollstuhlsport ist ein wichtiges Aushängeschild zur Förderung einer lebendigen Gesellschaft. Schweizer Parasportlerinnen sind in vielen Sportarten an der Weltspitze. Insbesondere in der Rennrollstuhldisziplin.
Bild 1: Im Hinwiler Windkanal (Kanton Zürich), werden sonst die Formel-1-Wagen des Motorsportteams getestet.
Bild 2: Mensch und Maschine im Einklang. Marcel Hug beim Windkanaltest bei Sauber.
Schnell sein reicht nicht
Für den OT-FOXX-Piloten Marcel Hug ist klar, dass Erfolg keine feste Grösse ist. Es ist unermüdliche Arbeit. Arbeit an sich selbst als Athlet und an der Ausrüstung. Davon profitiert die ganze Sportart, denn alle Athletinnen und Athleten können seit dem Launch 2021 den Rennstuhl bei Orthotec beziehen. So starten immer mehr internationale Leichtathletik-Cracks im Schweizer High-Tech-Gerät. Doch Marcel Hug fürchtet die Konkurrenz nicht, er begrüsst den Fortschritt. «Ich liebe es, mich an der Spitze der Innovation zu bewegen», verrät er dem Publikum der Akademikerstadt Boston. Es gehe auch darum, junge Menschen für den Rollstuhlsport zu inspirieren. Podiumsteilnehmer Stefan Dürger zeigt auf: «Unsere Mission geht über das Aufstellen von Geschwindigkeitsrekorden hinaus. Wir wollen die Bewegungsfreiheit fördern.» Die Erkenntnisse aus dem Spitzensport fliessen gezielt in Projekte ein, die den Alltag von Menschen mit Querschnittlähmung und ähnlichen Einschränkungen verbessern. Zum Beispiel bei den Themen Materialien, Messverfahren für die ideale Sitzposition im Rollstuhl bis hin zur Entwicklung von Geräten für den Breitensport, Freizeitaktivitäten und Therapie.
Gemeinsam sind wir besser
Die Moderatorin Christina Chase schälte eine weitere zentrale Erkenntnis heraus: Das Technologieprojekt ist geprägt von einer beispiellosen Zusammenarbeit mit besonderem Spirit. Unter den Partnern herrscht eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens und grosser Hingabe für das gemeinsame Ziel. Doch der Erfolg ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Ein Marathon, der das Schweizer Team bis an die Atlantikküste der USA gebracht hat. Für Orthotec Geschäftsführer Dürger ist damit ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen.
Schon während seiner Zeit als Maschinenbaustudent, galt das MIT, das Massachusetts Institute of Technology, als 'das Mekka für Ingenieure'. Nun sass er in deren Hallen, im Gespräch mit Christina Chase, CEO und Mitbegründerin des MIT Sports Lab. «Wohlverdient.», fand Joachim Tomaschett, der Vizekonsul des Schweizerischen Generalkonsulats in New York, dass diese besondere Begegnungsplattform 'Schweiz-USA' ermöglicht hatte. Für ihn gäbe es kein besseres Zeugnis für Schweizer Exzellenz, als wenn sich einer unserer Spitzensportler und einige unserer besten Ingenieure zusammentun, um auf höchstem Niveau und zum Wohle der Gesellschaft zu innovieren. Auch Mitorganisator Benjamin Bollman von Swissnex – dem globalen Netzwerk der Schweiz für Bildung, Forschung und Innovation – betonte den Mehrwert, der entsteht, wenn menschliche Leistung, Zusammenarbeit, Technologie und Design optimal zusammenspielen.
Er kam, fiel und siegte
Marcel Hug sorgte dafür, dass den Worten auf der Bühne direkt Taten auf der Strasse folgten. Bereits sechs Mal hatte der Paralympic Champion am Rollstuhlmarathon in Boston gesiegt. Auch die 128. Auflage des Traditionsrennens gewann er überlegen und schrieb damit Sportgeschichte. Mit seiner Endzeit von 1:15:33 unterbot er seine eigene Bestzeit um mehr als 1½ Minuten. Umso erstaunlicher, wenn man weiss, dass er unterwegs zu schnell aus einer Kurve schoss, und in eine Absperrung prallte. Das Löwenherz richtete sich in Sekundenschnelle wieder auf und fuhr zum Sieg. Auch seinen Schweizer Kolleginnen Manuela Schär (Silbermdaille) und Patricia Eachus (4. Rang) gelangen ausgezeichnete Rennen. Die Ingenieursbilanz glänzte mit 3 von 6 möglichen Medaillen für die OT-FOXX-Fahrerinnen und -Fahrer.
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