Querschnittlähmung und Herausforderungen im Alltag
Eine Querschnittlähmung betrifft nicht nur die Beine und die Arme. Die betroffenen Menschen müssen lernen, mit vielen körperlichen, psychischen und sozialen Herausforderungen umzugehen. In diesem Blog erläutern wir einige davon. Anschliessend können Sie Ihr Wissen gleich in unserem Quiz unterhalb des Blogs testen.
Text: Stefan Kaiser & Simon Zwimpfer
Illustrationen: Doreen Borsutzki
Körperliche Herausforderungen
Chronische Schmerzen
Rund 75 Prozent aller Querschnittgelähmten leiden unter chronischen Schmerzen. Häufig sind dies neuropathische Schmerzen (z. B. Phantomschmerzen), die im Nervensystem entstehen und an Orten gespürt werden, an denen sie eigentlich keine Empfindung mehr haben. Betroffene empfinden solche Schmerzen sehr unterschiedlich: kribbelnd, ziehend, elektrisierend, brennend, stechend, schneidend oder als sehr drückendes und beklemmendes Gefühl.
Kontrollverlust über Blase und Darm
Die Blase bzw. den Darm nicht mehr kontrollieren zu können, ist oft die grösste Einschränkung. Durch die Verletzung (Läsion) im Rückenmark gelangt die Information «Stuhl- oder Harndrang» nicht vom Darm bzw. von der Harnblase bis ins Gehirn. Die Betroffenen verspüren oft keinen Stuhldrang mehr, obwohl Harnblase und Darm stark gefüllt sind. Die Stuhl- bzw. Harnblasenentleerung kann nicht mehr willentlich gesteuert werden. Betroffene müssen sich mehrmals täglich (teilweise auch in der Nacht) katheterisieren, um ihre Harnblase zu entleeren. Wird die Blase nicht regelmässig geleert, steigt das Risiko einer Harnwegsinfektion und es drohen Nierenschäden. Um Stuhlinkontinenz zu verhindern, ist zum Teil tägliches Abführen des Stuhles notwendig. Auf der Seite Auswirkungen und Komplikationen lesen Sie mehr dazu. Auf der Seite Auswirkungen und Komplikationen lesen Sie mehr dazu.
Sitzen als Problem
Eine ständige Gefahr sind Druckgeschwüre, auch Dekubitus genannt, die einen monatelangen Spitalaufenthalt erfordern können. Dekubitus tritt auf, wenn Druck auf bestimmte Körperstellen ausgeübt wird. Dabei wird die Durchblutung der Haut und des darunter liegenden Gewebes beeinträchtigt und Hautschäden werden verursacht. Wer im Rollstuhl sitzt, muss deshalb sein Gesäss regelmässig, meist mehrmals pro Stunde, entlasten und die Haut täglich auf Druckstellen kontrollieren. Ein Dekubitus kann bei Querschnittgelähmten jederzeit entstehen. Grund sind die eingeschränkte Sensibilität der Haut und die verminderte Mobilität (Beweglichkeit). Oft beeinflusst ein Dekubitus die Gesundheit, Funktionsfähigkeit und Lebensqualität der betroffenen Personen erheblich, weil allenfalls längere Krankenhausaufenthalte nötig werden.
Knappe Luft
Das Atmen wird beeinträchtigt. Je höher das Lähmungsniveau, desto stärker ist die Atemhilfs-Muskulatur betroffen. Dies, weil das Zwerchfell, der Hauptmuskel für die Atmung, von Nerven zwischen den Halswirbeln C3 und C5 versorgt wird. Querschnittgelähmte Menschen haben oft einen teilweisen oder vollständigen Ausfall der Bauchmuskulatur. Fällt das Zwerchfell aus, ist keine eigene Atmung mehr möglich – man braucht eine Beatmungsmaschine. Atemstörungen im Schlaf sind zudem vier bis fünf Mal häufiger. Weitere Infos zur Atmung bei Querschnittgelähmten finden Sie hier.
Last für die Schultern
Querschnittgelähmte benötigen ihre Arme für den Transfer in den Rollstuhl und die Fortbewegung. Die Belastung der Schultern kann Entzündungen und Abnützungen auslösen, die die Selbstständigkeit einschränken. Verschiedene Therapieformen (z. B. Physio- und Ergotherapie) können helfen, die betroffenen Körperstellen zu trainieren und so resilienter zu machen.
Muskeln mit Eigenleben
Mehr als zwei Drittel der querschnittgelähmten Menschen leiden unter Spastizität: Muskeln reagieren mit unwillkürlichen Bewegungen und Verkrampfungen. Hinzu kommt eine Steigerung der Muskelreflexe. Spastizität entwickelt sich bei einer Schädigung des Rückenmarks oder des Gehirns. Spastik und Spasmen spielen im Leben querschnittgelähmter Menschen und ihrer Betreuungspersonen häufig eine zentrale Rolle.
Durch die Querschnittlähmung kommt es zur Unterbrechung der auf- und absteigenden Nervenbahnen im Rückenmark, über welche die Regulierung der Muskelspannung gesteuert ist. Das Gehirn verliert den Einfluss auf Reflexe, die über das Rückenmark ablaufen. Reflexe können nicht mehr «gebremst» werden und sind daher gesteigert. Viele querschnittgelähmte Menschen leiden deshalb an erhöhtem Muskeltonus (Muskelspannung) oder krampfartig einschiessender Muskelaktivität. Mehr zu Spastizität finden Sie hier.
Psychische Herausforderungen
Den Körper annehmen
Wer in den Rollstuhl kommt, fühlt sich oft weniger attraktiv für die Partnersuche. Man muss ein Selbstwertgefühl entwickeln für einen Körper, den man nicht mehr als Ganzes spürt.
Auch die Seele ist verletzt
Nach dem Unfall wirken psychologische Schutzmechanismen. Gefühle wie Trauer, Hilflosigkeit, Angst oder Wut treten oft verzögert auf. Man muss lernen, einen Umgang mit dem Verlust zu finden. Kurz bevor sie die Erstrehabilitation beenden, leiden 30 Prozent der Menschen mit Querschnittlähmung an psychischen Problemen wie Ängsten und Depressionen. Eine gezielte therapeutische Stärkung persönlicher Ressourcen wie Selbstvertrauen und Optimismus kann hierbei zu einer schnelleren Wiederherstellung der eigenen psychischen Gesundheit beitragen.
Fatigue
Fatigue bezeichnet eine übermässige, chronische körperliche und auch geistige Müdigkeit, die bei einer Querschnittlähmung entstehen kann, aber klar von Müdigkeit nach körperlicher und geistiger Arbeit (Ermüdung) sowie von einer Depression abgegrenzt werden muss. Die Ursache für die bei Menschen mit Querschnittlähmung vorkommender Fatigue ist noch weitgehend unklar.
Die Symptome der Fatigue sind geprägt vom allgegenwärtigen Gefühl der Erschöpfung, von extremer Müdigkeit und von negativen Emotionen wie Angst, Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Die Betroffenen sind weniger aufmerksam, leiden an Konzentrationsmangel und haben schlechtere Gedächtnisleistungen. Typisch ist, dass selbst ausreichend Schlaf und Ruhe, keine Erholung bringen.
Verändertes Sexualleben
Eine Rückenmarkverletzung beeinflusst fast immer die Sexualfunktionen und die Sensibilität im Intimbereich. Sex zu haben, ist aber in den meisten Fällen weiterhin möglich. Mit Hilfsmitteln (u. a. Viagra, Penispumpe, Gleitmittel) können Querschnittgelähmte ein erfülltes Sexualleben haben. Auch Kinder zu bekommen, ist in der Regel weiterhin möglich. Querschnittgelähmte Frauen können in den meisten Fällen ohne Probleme schwanger werden und eine normale Schwangerschaft erleben. Bei querschnittgelähmten Männern nimmt zwar die Samenqualität ab, sie ist aber häufig ausreichend für eine Vaterschaft. Je nach Spermienqualität ist ein assistierter Samenerguss sowie eine künstliche Befruchtung nötig.
Mehr zum Thema Querschnittlähmung und Sexualität erfahren Sie in unserem Blog.
Soziale Herausforderungen
Beziehungen pflegen
Familie, Partnerschaft und das soziale Netzwerk helfen, die Herausforderungen der Querschnittlähmung zu meistern. Oft überdauern nur stabile Beziehungen die Rehabilitationsphase. Wer auf fremde Unterstützung angewiesen ist, muss neue Formen der Selbstständigkeit finden.
Mobilität zurückgewinnen
Für die Teilhabe an der Gesellschaft sind Hilfsmittel wie Rollstuhl und umgebautes Auto zentral. Sie ermöglichen selbstständige Wege zur Arbeit, in die Therapie, zum Sport oder ins Sozialleben.
Um den Umgang mit dem Rollstuhl zu lernen, sind Patient*innen im SPZ einmal im Monat mit erfahrenen Betroffenen (Peers) und einem interprofessionellen Rehateam ausserhalb des SPZ unterwegs. So gehen sie zum Beispiel zu Sportanlässen und in Konzerte, ins Kino oder machen Stadtführungen sowie Schiffsrundfahrten. Diese Learning-by-Doing-Events haben den Fokus, Wissen und erlernte Fertigkeiten ausserhalb der optimal angepassten Umgebung im Rehabilitationszentrum zu testen, um zu sehen, wo noch Wissenslücken bestehen. Auch das Benützen von öffentlichen Verkehrsmitteln und Toiletten, Einkaufen von geeigneter Kleidung, Reisen usw. wird dabei thematisiert.
Unterstützung beim Umbau des eigenen Autos erhalten Betroffene durch die Direkthilfe der Schweizer Paraplegiker-Stiftung oder durch die Orthotec.
Mit Barrieren umgehen
Das öffentliche Umfeld ist nicht barrierefrei, und man muss im Alltag Demütigungen wie unüberwindbare Hindernisse oder Vorurteile akzeptieren. Solche «Behinderungen» sind sozial gemacht.
Physische Barrieren, die Rollstuhlfahrende in ihrem Alltag überwinden müssen, gibt es zahlreiche. Unter anderem im öffentlichen Verkehr, bei Treppen, beim Reisen oder beim Zugang zu Gebäuden. Weiteres zum Thema Zugänglichkeit für Querschnittgelähmte finden Sie hier. Übrigens: Bei physischen Barrieren zu Hause oder beim Arbeitsplatz können sich Betroffene an das Zentrum für hindernisfreies Bauen der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung wenden.
Mit Sozialversicherungen verhandeln
Man muss mit den Sozialversicherungen umgehen lernen. Dazu zählt das Warten auf Entscheide und das Vorgehen bei nicht akzeptierbaren Entscheidungen oder in veränderten Lebenssituationen. Die Sozialberatung des SPZ in Nottwil begleitet und unterstützt Patient*innen sowie deren Angehörige während der Erstreha und erarbeitet gemeinsam individuelle Lösungen.
Wirtschaftliche Wiedereingliederung
Die Teilnahme am Erwerbsleben ist wichtig für die Integration. Ist die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz nicht möglich, sind Abklärungen, Umschulungen und Weiterbildungen nötig. In der Schweiz schaffen 61 Prozent den Wiedereinstieg – das ist internationale Spitze.
Auf dem Campus in Nottwil unterstützt ParaWork Klient*innen, die eine berufliche Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anstreben, und bietet individuell angepasste Massnahmen an.
Tauchen Sie in weitere Wissenswelten ein
Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z. B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Werden Sie deshalb Mitglied der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, um im Ernstfall 250 000 Franken zu erhalten.
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